Ein Auto steht im israelischen Sderot vor einem Einkaufszentrum, dass auch Monate nach dem Terrorangriff durch die Hamas geschlossen ist.
reportage

Sderot nach der Hamas-Attacke Wenn die Angst immer da ist

Stand: 04.03.2024 07:53 Uhr

Sderot nahe des Gazastreifens wurde am 7. Oktober von der Terrororganisation Hamas brutal attackiert. Nun versuchen die Bewohner eine Rückkehr zur Normalität - aber wie kann das gehen?

Von Benjamin Hammer, DLF, zzt. ARD-Studio Tel Aviv

Wer in diesen Tagen nach Sderot fahren will, muss einen Checkpoint der israelischen Armee passieren. Die ganze Stadt wird mit Kameras überwacht - und in der Einsatzzentrale von Avi Ezra sind die Livebilder zu sehen. Der Raum ist speziell gesichert, und Ezra öffnet ihn mit einer Chipkarte. Er ist der Sicherheitschef von Sderot. Am 7. Oktober erlebte er einen wahren Albtraum.

Als damals der Alarm ertönte, eilte er in die Einsatzzentrale. "Zuerst dachten wir, dass das nur ein Raketenalarm ist. Wir gingen nicht davon aus, dass Terroristen in die Stadt eingedrungen sind", sagt Ezra. Doch dann seien immer mehr Anrufe eingegangen. Irgendwann sahen Ezra und seine Kolleginnen dann Pick-up-Trucks und schwer bewaffnete Terroristen auf den Überwachungsbildschirmen.

Zwei israelische Soldaten vor den Trümmern einer Polizeistation in Sderot, in der sich Terroristen der Hamas verschanzt hatten.

Die Polizeistation von Sderot am 8. Oktober: Zwei Soldaten am Tag nach dem Hamas-Überfall stehen vor den Ruinen.

Der Kampf um Sderot dauerte 24 Stunden

Wie in anderen Orten an der Grenze zum Gazastreifen versuchten auch in Sderot israelische Soldaten und Polizisten, die Terroristen zurückzudrängen. Zu Beginn waren sie damit völlig überfordert. Wegen eines jüdischen Feiertages war die Polizeistation von Sderot nur dünn besetzt. Militante Palästinenser wussten offenbar genau, wo sie sich befindet und griffen an.

Der Kampf um Sderot dauerte mehr als 24 Stunden. Die Polizeistation wurde bei den Kämpfen so schwer zerstört, dass sie mittlerweile abgerissen wurde. Mehr als 20 Polizisten und mehr als 50 Zivilisten wurden am 7. und 8. Oktober allein in Sderot ermordet. Insgesamt töteten die Terroristen an diesen Tagen 1.200 Menschen.

"Dieser Angriff war etwas völlig Neues", sagt Ezra. "Ich dachte, wir sind in einem Film. Das war völlig unwirklich, was wir da vor unseren Augen sahen."

Karte: Sderot, Israel, und Gaza-Streifen

Sderot liegt in unmittelbarer Nähe zum Gazastreifen. Bei den Terrorangriffen der Hamas im Oktober 2023 wurden in der Stadt Dutzende Menschen getötet.

Bewaffnete Soldaten in den Schulen

Fast fünf Monate später versucht Ezra, in einer Schule der Stadt Zuversicht zu verbreiten. Etwa 25 Lehrerinnen sitzen im Raum für Naturwissenschaften. Der Raum hat kleine Fenster mit Metallabdeckungen. Er wird auch als Bunker genutzt. Bei Raketenalarm bleiben den Schülerinnen und Schülern maximal 15 Sekunden, um sich in Sicherheit zu bringen. Erst vor wenigen Tagen gab es wieder Alarm. Die Spielplätze der Stadt sind meist menschenleer.

Doch jetzt werden die Schulen wieder geöffnet. Ezra erzählt, dass es in jeder Schule einen bewaffneten Soldaten geben werde. Eine Lehrerin sagt: "Wenn ich das alles höre, habe ich keine Lust mehr."

Dganit Hargov will ihre Kolleginnen unterstützen und wie der Sicherheitsmann Ezra in diesen Tagen Zuversicht ausstrahlen. Die Beratungslehrerin spricht gerade über den 7. Oktober, als sie meint, etwas zu hören und zusammenzuckt. "Wir Einwohner von Sderot leben in Alarmbereitschaft. Wenn es Geräusche gibt, lässt es einen sofort aufschrecken", sagt Hargov. Manche Kinder könnten sich dann nicht mehr beruhigen.

Das ist die Herausforderung dieser Tage: Die Lehrerinnen wollen für die Schülerinnen und Schüler da sein - und haben selbst Angst. Der 7. Oktober, sagt die Lehrerin, habe die Menschen in Sderot verändert. Es seien auch Eltern von Schülern ermordet worden.

"Die Angst ist immer da"

Sderot hat etwa 30.000 Einwohnerinnen und Einwohner. Es gab Prognosen, dass es bis zum Ende des Jahrzehnts fast doppelt so viele sein könnten. Doch jetzt stehen große Teile der Stadt leer. Nur jeder dritte Einwohner ist bislang zurückgekehrt. Der Sicherheitsbeauftragte Ezra sagt, die Stadt sei nun viel sicherer als vor dem 7. Oktober. Auch die Lehrerin Hargov spricht von einer Art Sicherheitsgefühl. Die Angst, räumt sie ein, sei aber immer da: "Der Gazastreifen ist hier, wir können rüberwinken."

Die Angriffe der israelischen Armee auf den Gazastreifen sind häufig auch in Sderot zu hören. Die Armee bombardiert das Gebiet seit Monaten. Nach eigenen Angaben als Reaktion auf Raketen militanter Palästinenser und, um die Terrormiliz Hamas zu vernichten.

Mindestens 30.000 Menschen sollen nach Angaben des von der Hamas kontrollierten Gesundheitsministeriums im Gazastreifen getötet worden sein. Die meisten von ihnen Zivilisten. Die Vereinten Nationen halten diese Zahl für glaubwürdig.

"Im Gazastreifen gibt es nur Terror"

Or Friedman hat an diesem Mittag alle Hände voll zu tun. Es gibt eine Menge Bestellungen und er holt gerade eine Olivenpizza aus dem Ofen. Seine Pizzeria wurde am 13. Oktober durch eine Rakete fast vollständig zerstört. Friedman hat sie wieder aufgebaut. Der Pizzabäcker sagt, er glaube schon, dass es im Gazastreifen Menschen gebe, die gegen den Krieg seien.

Dann aber ändert er seine Haltung: "Den Terror kann man nicht besiegen", sagt der Israeli. "Und so, wie es aussieht, gibt es dort nur Terror. Auch die Zivilisten sind Terroristen, denn sie haben entweder Geiseln oder Raketen oder Munition in ihren Wohnungen." Deswegen glaube er, so leid es ihm tue, dass "der Gazastreifen ausgelöscht werden" müsse. Die Bewohner des Gazastreifens, sagt der Pizzabäcker, müssten in Länder wie die Türkei oder Ägypten gebracht werden.

Sderot war schon vor dem 7. Oktober eine konservative Stadt. Die linke, idealistische israelische Friedensbewegung ist hier eher nicht zu Hause. Der Terror des 7. Oktober hat bei den meisten Bewohnern zu einer Überzeugung geführt: Frieden mit den Palästinensern im Gazastreifen sei einfach nicht möglich.

Was empfindet Friedman, wenn er auf den fast vollständig zerstörten Norden des Gazastreifens blickt? Wenn er von Kindern hört, die dort Hunger leiden? "Das haben sie sich selbst eingebrockt", sagt er.

Nach dem 7. Oktober könnte die menschliche Distanz zwischen dem Pizzabäcker und den Palästinensern im Gazastreifen nicht größer sein. Dabei sind es von Sderot bis nach Gaza nur knapp zwei Kilometer.

Benjamin Hammer, BR, zzt. Tel Aviv, tagesschau, 04.03.2024 00:05 Uhr

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete Inforadio am 04. März 2024 um 06:30 Uhr.