Eine junge Braut nimmt an einer Massenhochzeitszeremonie teil.

Bundesstaat in Indien Mit drastischen Mitteln gegen Kinderehen

Stand: 20.02.2023 15:31 Uhr

Nirgendwo heiraten so viele Minderjährige wie in Indien. 1,5 Millionen sollen es jährlich sein, schätzt UNICEF. Der Bundesstaat Assam geht nun mit Verhaftungen dagegen vor - mit teils drastischen Folgen für die betroffenen Familien.

Nureja Khatun ist verzweifelt: "Nachts gegen 23 Uhr hat die Polizei meinen Mann mitgenommen und brachte ihn auf die Polizeiwache", sagt sie einem Reporter der Nachrichtenagentur AP. "Ich habe ein kleines Mädchen. Wer soll sie jetzt ernähren? Wie sollen wir überleben?"

Nurejas Mann Akbar Ali wurde streng genommen ihretwegen festgenommen. Weil er sie vor zwei Jahren geheiratet hat. Damals war Nureja erst 17 Jahre alt - nach der Gesetzeslage eine Kinderehe.

3000 festgenommene Ehemänner

In Assam, einem Bundesstaat im Nordosten Indiens, geht die Regierung nun mit bespielloser Härte gegen solche Ehen vor. Die Ehemänner werden festgenommen, über 3000 sind es bisher. Sie werden in provisorischen Gefängnissen untergebracht. Ihnen drohen mindestens zwei Jahr Haft, im Extremfall noch deutlich mehr.

Auch Radha Rani Mandals Sohn ist darunter, er ist der Ernährer der Familie. Sie weint und ist fassungslos. "Ich habe mich für das Gerichtsverfahren an einen Anwalt gewandt. Es war herzzerreißend, ihm zu sagen, dass ich kein Geld habe. Ich hatte nur ein paar hundert Rupien für den Transport. Ich flehte ihn an, weil meine Schwiegertochter schwanger ist. Ich weiß nicht, was ich tun soll. Es ist kein Geld im Haus. Wie kann ich neben der täglichen Lohnarbeit auch noch herumlaufen und nach Rechtsbeistand suchen?"

In jeder dritten Ehe ist ein Partner zu jung

Um heiraten zu dürfen, müssen Frauen in Indien mindestens 18 Jahre, Männer 21 Jahre alt sein. Dies wird aber in weiten Teilen des Landes nicht beachtet. Im für seine Teeplantagen bekannten Bundesstaat Assam, so wird geschätzt, ist bei jeder dritten Eheschließung einer der Ehepartner zu jung. Es ist die Not, die dahintersteht, die mangelnde Bildung und es sind Traditionen, vor allem auf dem Land.

UNICEF geht davon aus, dass in Indien jedes Jahr 1,5 Millionen minderjährige Mädchen heiraten, so viel wie in keinem anderen Land weltweit. Es sei notwendig, gegen Kinderehen vorzugehen, sagt Avy Krishna, Polizeidirektor in Assams Hauptstadt Guwahati. Wegen der erhöhten Sterblichkeitsrate, der zunehmenden Teenager-Schwangerschaften und der hohen Zahl von Kinderehen habe die Regierung von Assam eine Resolution verabschiedet, dass "dieses soziale Übel in unserem Bundesstaat ausgerottet werden muss", erklärt Krishna.

"Krieg" gegen Kinderehen

Von einem Krieg gegen Kinderehen ist die Rede. Ein Krieg, der ganz plötzlich begonnen wurde und der sich auch gegen Ehemänner richtet, die schon vor Jahren geheiratet haben.

Kritik dagegen kommt von Anshuman Bora vom Obergericht der Landeshauptstadt. Festnahmen dürften nur das letzte Mittel sein, sagt er. "So viele Jahre, 16 oder 17 Jahre hat niemand irgendwelche drastischen Schritte unternommen, nicht einmal Schritte, um die Kinderheirat zu stoppen. Plötzlich, über Nacht, aus heiterem Himmel, haben sie diese Schritte unternommen, sie haben angefangen, die Leute zu verhaften." Wichtig seien vielmehr soziale Reformen, sagt der Jurist.

Vor allem muslimische Männer betroffen

Manche im Land vermuten schon politische Motive. Assam wird von den Hindunationalisten der BJP regiert, der Partei des indischen Premiers Narendra Modi. Betroffen von den Verhaftungen sind offenbar weit überwiegend muslimische Männer. Nur einige Hundert der über 3000 Verhafteten seien Hindus. 

Die Aktion richte sich nicht gegen Muslime, sagt die Regierung, es gehe lediglich um Null Toleranz für Kinderehen. Bis 2026 soll es keine solcher Ehen mehr geben, so der Plan. Doch wie dieser Plan durchgesetzt werde, schade mehr, dass als er helfe - und die Opfer seien auch hier wieder Frauen, Arme, Ungebildete, Analphabeten, die angewiesen sind auf das wenige Geld, das die Männer verdienen.

Auch die Mutter eines weiteren Verhafteten ist verzweifelt: "Ich habe kein Geld, keine Eltern, keine Familie, meine beiden Kinder sind meine einzige Hoffnung zum Überleben. Ich bin wie eine Verrückte auf der Suche nach meinem Sohn gewesen. Sie sollen ihn mir zurückbringen. Ich wusste nie etwas von diesen Gesetzen über Kinderheirat." 

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete MDR aktuell am 20. Februar 2023 um 18:24 Uhr.