Eine nicht explodierte Smerch-Rakete steckt bei Stepanakert im Boden.

Ein Jahr nach Kriegsende Große Ambitionen, wenig Vertrauen

Stand: 09.11.2021 18:51 Uhr

Vor einem Jahr endete der Krieg zwischen Armenien und Aserbaidschan. Nun soll die Region wieder über Verkehrswege und offene Grenzen vernetzt werden. Doch am Wichtigsten fehlt es.

"Drei plus Drei" lautet die neue Formel. Ende 2020 schlug der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan eine Allianz vor: Sein Staat solle mit Russland und dem Iran sowie den drei Südkaukasus-Staaten Aserbaidschan, Armenien und Georgien eine Allianz bilden. Die einstigen Verkehrswege zwischen Europa und Asien sollen wieder miteinander verbunden, geschlossene Grenzen geöffnet werden. Gut drei Jahrzehnte hatte dies der Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan um die Region Bergkarabach verhindert. Auch jetzt ist fraglich, wie aussichtsreich dieses ambitionierte Vorhaben ist.

Ein Jahr ist der 44 Tage währende Krieg her, der weit mehr als 6000 Menschen das Leben gekostet hat. Zu einem hohen Preis gelang es Aserbaidschan mit Unterstützung der Türkei, Gebiete zurückzuerobern, die die Armenier als Sicherheitszone um Bergkarabach reklamiert hatten.

Darüber hinaus drangen sie in jenen Teil vor, den die Armenier beanspruchen, weil sie nur so ihr Recht auf Selbstbestimmung gesichert sehen. Als sich die Aserbaidschaner anschickten, ganz Bergkarabach einzunehmen, setzte Russland einen Waffenstillstand durch.

Kooperation oder Machtspiel

Präsident Wladimir Putin stellte sicher, dass zunächst für fünf Jahre russische Truppen die von den Armeniern bewohnten Gebiete Bergkarabachs sichern werden. Soldaten und Militärgerät waren bereits in Marsch gesetzt, als Armeniens Regierungschef Nikol Paschinjan und Aserbaidschans Staatschef Ilham Alijew am 9. November 2020 ihre Unterschriften unter die Waffenstillstandsvereinbarung setzten.

Diese enthält auch Vorgaben dazu, alte Verkehrswege zu reaktivieren. Einer davon soll Aserbaidschan wieder mit seiner Exklave Nachitschewan verbinden, die wiederum an die Türkei grenzt. Erdogans "Drei plus Drei"-Plan knüpft daran an. Diese Vorhaben sind allerdings nur zu realisieren, wenn sich die Südkaukasus-Staaten und die Regionalmächte in der Nachbarschaft einig sind.

Die Frage ist, ob dafür alte Rivalitäten und Feindschaft überwunden und Vertrauen aufgebaut werden können. Oder es geht letztlich um ein Machtspiel, aus dem eine Seite als Sieger hervorgehen will: die Türkei mit dem brüderlichen und militärischen Partner Aserbaidschan oder Russland im Verbund mit Armenien und von Fall zu Fall auch mit dem Iran.

Hass und Angst

Einen Prozess zur Versöhnung und zum Vertrauensaufbau zwischen den Konfliktparteien sieht die Waffenstillstandsvereinbarung von 2020 nicht vor. Nach Kriegsende wuchs der Hass sogar noch, als klar wurde, wie viele Familien auf beiden Seiten Angehörige verloren hatten und als Videos schwerster Misshandlungen Gefangener auftauchten.

Der verlorene Krieg stürzte Armenien in eine tiefe Krise. Die Wut über die vielen Toten und das verlorene Territorium entlud sich an Regierungschef Paschinjan. Die Opposition legte es auf einen Staatsstreich an, doch fehlte die Unterstützung der Bevölkerung. Bei einer vorgezogenen Parlamentswahl im Juni konnte sich Paschinjan noch einmal die Mehrheit sichern. Doch vor allem in den Grenzregionen zu Aserbaidschan sind die Angst vor dem Nachbarn und das Misstrauen gegen die Regierung groß. Kleinere Gruppen trainieren die Verteidigung ihres Landes, mancher träumt gar von Rückeroberung.

Triumph und Prestige

In Aserbaidschan sorgte Präsident Alijew dafür, dass kaum ein Gedanke an Versöhnung aufkam. Er wurde nicht müde, in Triumph-Reden Vorwürfe und Drohungen an die Armenier auszusprechen. Im Frühjahr weihte er in Baku einen Trophäenpark mit erobertem Kriegsgerät und Puppen ein, die Armenier herabwürdigend darstellen.

Mit Aggressivität konnte Alijew nur anfangs von Defiziten ablenken. Viele sprechen nun wieder über Korruption und sein autoritäres Vorgehen. Die Kosten für den Aufbau der rückeroberten Gebiete werden immens sein, während die Einnahmen aus Öl und Gas absehbar sinken. Doch Alijew setzt auf Prestigeprojekte und kündigt "smarte" Städte an. Und er drängt darauf, endlich die Verbindung nach Nachitschewan herzustellen.

Ein Konflikt wie ein Sog

Zwar verhandelt eine Kommission unter Leitung Russlands über die Infrastrukturvorhaben. Doch die Realität vor Ort war eine andere. An mehreren Grenzverläufen zwischen Armenien und Aserbaidschan kam es zu Kämpfen, teils wurde schweres Kriegsgerät eingesetzt, wurden Soldaten und Zivilisten getötet. Oft konnten die russischen Truppen die Lage erst nach einer Weile beruhigen. Zugleich drohten Russland, aber auch die Türkei und zuletzt der Iran in den Sog der Auseinandersetzungen zu geraten.

Am Ende sorgte die russische Führung immer wieder für eine Beruhigung der Lage und verteidigte damit ihre Vormachtstellung - im Zweifelsfall gab die Türkei nach. Nur am Rande spielen die EU und die USA eine Rolle. Als Mitglieder der Minsk-Gruppe äußerten sich Vertreter aus Paris und Washington, doch ein Weg scheint derzeit nur über Moskau zu führen.

Die EU arbeitet an einem Programm, in dessen Rahmen Finanzmittel auch für den Bau von Infrastruktur vorgesehen sind. Da ergibt sich ein kleiner Hebel, denn die Regionalmächte ebenso wie die Südkaukasusstaaten leiden unter ökonomischen Problemen.

Die Öffnung der Verkehrswege könnte der gesamten Region einen enormen Schub verleihen. Doch die Konzentration auf die technischen Aspekte ohne Aufbau von Vertrauen zwischen den Menschen vor Ort erwies sich bislang als wenig erfolgreich.

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Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete Phoenix am 22. Dezember 2020 um 11:00 Uhr.