Kinder in der Region Cauca
weltspiegel

Kindersoldaten in Kolumbien "Die Milizen spielen mit ihren Träumen"

Stand: 01.10.2023 11:10 Uhr

Trotz Friedensvertrags terrorisieren FARC-Splittergruppen, Drogenbanden und Paramilitärs in der Region Cauca immer noch die Menschen. Und rekrutieren weiter Kinder. Vor allem Indigene sind die Leidtragenden.

Das Fußgetrappel von zwei Dutzend Kindern hallt durch den Raum. Kevin lässt sie auf der Stelle laufen, Liegestütze und Kniebeugen machen. Der 19-Jährige trainiert Kinder vom indigenen Volk der Nasa. Der Sport soll sie selbstbewusster machen und sie beschäftigt halten. "Wir verbringen Zeit zusammen, haben Spaß", erklärt Kevin, "damit sich die Kinder nicht bewaffneten Gruppen anschließen".

Kevin - ernstes Gesicht, an den Seiten modisch abrasierte Haare - ist ein junger Mann, der viel lächelt, aber nicht gerne über sich redet. Vor zwei Jahren war er drauf und dran, Kindersoldat zu werden. Mit 17 schloss er sich einer Splittergruppe der Guerillaorganisation FARC an. Nur durch Glück, weil seine Mutter mit der Miliz verhandelte, kam er nach wenigen Monaten wieder raus. Er musste nicht kämpfen, auf niemand schießen, sagt er. Zur Sicherheit sollen wir seinen Nachnamen nicht sagen.

Kindersoldaten in Kolumbien

Marie-Kristin Boese, ARD Mexiko-Stadt

FARC hat das Sagen

Kevin kommt aus Kolumbiens Region Cauca, nahe der Stadt Corinto. Es ist eine grüne Hügellandschaft, wunderschön und scheinbar friedlich - aber das täuscht. Wer hier das Sagen hat, prangt an jeder Straßenecke. "Fensterscheiben runter oder es gibt eine Kugel. Die FARC", hat jemand an eine Hauswand geschmiert. Späher bewaffneter Gruppen wollen wissen, wer sich nach Anbruch der Dunkelheit hier bewegt.

Die Polizeistation ist aus Angst vor Anschlägen mit Sandsäcken und Absperrungen geschützt. Vor kurzem gab es eine Attacke auf die Polizei im nahen Ort Timba mit zwei Toten. So etwas passiert hier ständig.

Kevin und Yelsi Yule

Die indigenen Nasa, Kevin und Yelsy Yule, wollen die Rekrutierung von Kindersoldaten verhindern.

Trotz Friedensvertrag kein Friede

Trotz des Friedensvertrags der Regierung mit der FARC von 2016 kehrt einfach kein Frieden ein. Tausende ehemalige Kämpfer haben sich wiederbewaffnet, teils aus Frust über den stockenden Friedensprozess. Im Cauca sind Splittergruppen der früheren FARC aktiv, dazu Drogenbanden und Paramilitärs.

Fast direkt neben der Straße wachsen Kokapflanzen, aus deren Blättern Kokain produziert wird. Nachts erstrahlen die Hügel hell, weil dutzende Marihuanafelder mit Glühbirnen beleuchtet werden. Es ist eine konfliktreiche Zone, und vor allem die indigenen Nasa geraten seit Jahrzehnten zwischen die Fronten.

Hügelige Landschaft in der kolumbianischen Region Cauca

Die landschaftliche Schönheit der Region Cauca steht im Widerspruch zum harten Leben der Menschen hier. Weiterhin dominieren Banden und Milizen die Gegend.

"Wir sind deine zweite Familie"

Immerhin sei nun Wandel spürbar, sagt Yelsy Yule, ein indigener Anführer. Dadurch, dass der linksgerichtete Präsident Gustavo Petro Friedensgespräche mit den bewaffneten Gruppen angestoßen hat. "Aber es sind viele Gruppen, viele Beteiligte, eine komplexe Lage", sagt Yule.

Yule will vor allem die Rekrutierung von Jugendlichen verhindern. Die Milizen lungern mit ihren Motorrädern vor den Schulen, klagt er. "Sie sagen den Kindern: 'Hier, nimm diese 20 Dollar, kauf mir was davon. Der Rest ist für dich.' Das ist ein Batzen Geld." Oder die bewaffneten Gruppen wickeln die Kinder mit Nachrichten in den sozialen Netzwerken ein. "Die Milizen spielen mit ihren Träumen und Gefühlen", sagt Yule, "die bedienen sich wie auf einem Markt".

Kevin redet mit seiner Familie kaum über seine Rekrutierung, aber er hat sich Yule anvertraut. Da war die Wut über den Mord an seinem Vater, dazu Ärger mit der Mutter. "Bei der Miliz sagen sie dir: 'Wir sind deine zweite Familie.' Und dann geben sie dir persönliche Sachen wie Seife, Klopapier und Deo", erzählt Kevin. Es sind scheinbare Kleinigkeiten, die hier aber nicht selbstverständlich sind.

Ein Kokafeld in Kolumbien

Fast direkt neben der Straße wachsen im Cauca Kokapflanzen, aus deren Blättern Kokain produziert wird.

Fast 20.000 Kinder in 20 Jahren

Die Gegend ist rau, das Leben karg und hart. Die Bauernhöfe liegen oft abgeschieden in den Bergen, Jobs gibt es kaum. Es mangele an sehr vielem, sagt Soziologe Juan Manuel Torres von der Stiftung PARES. Die Rekrutierung von Minderjährigen sei deshalb eines der größten Probleme der Region.

Auch die FARC hatte Kinder rekrutiert: 18.766 in 20 Jahren, laut Daten der Sonderjustiz für den Frieden in Kolumbien. Die Zahlen nach dem Friedensvertrag von 2016 sind wohl unvollständig, weil viele Familien das Verschwinden ihrer Kinder nicht anzeigen, häufig aus Angst oder weil die Polizei ohnehin wenig tun kann. Yules indigene Gemeinde spricht von 82 rekrutierten Minderjährigen, allein in diesem Jahr, allein im Norden des Cauca.

Die Karte zeigt Kolumbien mit der Region Cauca.

Familien wissen, was ihren Kindern droht

Die meisten betroffenen Familien wollen nicht mit Journalisten sprechen, weil die Verzweiflung und der Schock zu groß sind. Sie wissen, was ihren Kindern droht. Die Jungen kämpfen, die Mädchen werden oft sexuell ausgebeutet. "Viele haben ihre Kinder ermordet oder verstümmelt zurückbekommen", sagt Erika Tatiana Caso von der indigenen Gemeinde der Nasa. "Und doch vermeiden wir, jemanden direkt anzuklagen. Denn es könnte sein, dass du die Miliz hier in der Nähe wiedertriffst, in Zivil, und dass sie dich bedrohen."

Die indigene Gemeinde versucht, mit aller Macht gegenzusteuern. Mit Aufklärung für die Kinder, mit Sport- und Tanzkursen, mit Rückhalt in ihrer Gemeinschaft. Sie sollen ihre Gefühle ausdrücken lernen, denn fast jede Familie hat Gewalt erlebt, Rekrutierungen von Vätern, Brüdern oder Söhnen und Töchtern.

Dass der Cauca schnell friedlicher wird, glauben die Nasa nicht. "Das ist kompliziert, sehr kompliziert", sagt Caso. "Der Cauca liegt strategisch auf einer Drogenroute zum Pazifik. Der Streit um Territorien, um die Kontrolle der Region wird weitergehen." Aber sie haben auch Hoffnung. In einer Woche beginnen Friedensverhandlungen zwischen Kolumbiens Regierung und der größten FARC-Dissidentengruppe. Zeitgleich sollen zehn Monate die Waffen schweigen. Es wäre eine Atempause für die vom Konflikt gezeichneten Region.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtet der Weltspiegel im Ersten am 01. Oktober 2023 um 18:30 Uhr.