Ein Mann transportiert kleine Bälle in einen Becher.

Rückenmarksverletzung Elektrostimulation hilft Gelähmten auch ohne OP

Stand: 27.05.2024 14:37 Uhr

Schon jetzt können moderne Implantate Gelähmten helfen, Arme und Beine zu bewegen. Nun haben Forschende ein neues Gerät getestet, das allein auf Elektrostimulation setzt - mit vielversprechenden Ergebnissen.

Von Pascal Kiss, SWR

"Oh, das ist ja verrückt", staunt ein Studienteilnehmer über sein deutlich verbessertes Fingerspitzengefühl. Mit seiner Hand transportiert er kleine Kugeln in einen Eimer - trotz Rückenmarksverletzung. Die Szene hat das Forschungsteam der Studie als Video veröffentlicht und zeigt, wie gezielte Elektrostimulation gelähmten Menschen helfen kann. Das Besondere: Die Testpersonen müssen lediglich zwei Elektroden auf den Nackenbereich legen - nur auf die Haut, ohne Implantat und ohne chirurgischen Eingriff. Die Studie ist im Fachmagazin Nature erschienen.

Übrig gebliebene Nervenbahn optimal nutzen

"Wir haben festgestellt, dass die Anwendung der Rückenmarkstimulation die Bewegung sofort erleichtert", sagt der französische Neurowissenschaftler Grégoire Courtine. 60 Menschen mit Rückenmarksverletzungen haben das neue Elektrostimulationsgerät getestet. Sie alle sind nach Unfällen am Ober- und Unterkörper gelähmt. Zumindest ein Teil der Nervenbahnen im Rückenmark ist aber noch intakt. Das betrifft 90 Prozent der Menschen mit Rückenmarkverletzungen, sagt Edelle Field-Fote von der Rehaklinik Shepherd Center in den USA. "Die meisten haben noch einige Nervenverbindungen." Das heißt: Die Elektrostimulation soll dabei helfen, die vorhandenen Nervenbahnen noch besser zu nutzen.

Elektrostimulation direkt in der Reha?

Wenn noch ein Teil der Nervenbahnen vorhanden ist, können Betroffene nach langem Training ihre Arme und Hände oft ein bisschen bewegen. Dieses Potenzial soll durch die Elektrostimulation in Zukunft noch besser ausgeschöpft werden, so die Hoffnung. Der Ansatz ist nicht neu, aber ein solches Gerät ist noch nie in so vielen Rehabilitationszentren getestet worden. Weil kein Implantat eingesetzt werden muss, kann das Gerät direkt in der ersten Reha nach dem Unfall eingesetzt werden - so der Plan.

60 Betroffene nahmen an der Studie teil. Sie trainierten zunächst zwei Monate ohne Stimulation mit Physio- und Ergotherapeuten. Danach durften sie zwei Monate lang mit dem Elektrogerät trainieren - mit deutlich spürbarem Effekt: "Wir konnten also wirklich starke Beweise dafür sehen, dass die Stimulation diese Verbesserungen verursacht", sagt der Neurowissenschaftler Chet Moritz von der Universität Washington.

Elektrostimulation lässt Hände besser bewegen

43 von 60 Testpersonen konnten ihre Arm- und Handfunktion im Verlauf der Studie deutlich verbessern. Langzeiteffekte über mehrere Monate wurden allerdings nicht untersucht. Noch mehr Betroffene berichteten von einer besseren Lebensqualität, auch wenn die Fortschritte eher gering waren.

Bei der Journalistin Melanie Ried hat die Therapie besonders gut funktioniert: Sie ist vor 14 Jahren vom Pferd gestürzt und konnte im Laufe der Jahre zumindest ihren rechten Arm immer mehr bewegen, aber vor allem die linke Hand war auch nach 14 Jahren nicht zu gebrauchen, wie sie sagt. Durch das Training mit der neuen Elektrostimulation wurde auch wieder die linke Hand stärker: "Ich habe wieder etwas Grip. Ich kann mit meiner linken Hand ein Tablet oder ein Telefon bedienen. Ich kann mit ihr den Sicherheitsgurt öffnen", sagt Melanie Ried. Und sie kann sich endlich wieder einen Pferdeschwanz binden.

Wie lange die Effekte nach der Therapie anhalten, sei in der Studie nicht untersucht worden, kritisiert Professor Rüdiger Rupp von der Universität Heidelberg. Noch lässt sich nur schwer abschätzen, wie stark Betroffene direkt nach der akuten Verletzung profitieren werden. Im Rahmen der Studie wurde das Gerät erst mal nur mit Betroffenen getestet, deren Rückenmarksverletzung länger als ein Jahr zurücklag. Der Effekt in den ersten Reha-Maßnahmen nach dem Unfall könnte noch ausgeprägter sein, sagt Professor Winfried Mayr vom Zentrum für Biomedizinische Technik der Universität Wien: "Es wäre wichtig, auch solche Studien durchzuführen."

Wachsen wieder neue Nervenbahnen?

"Die Patienten sollen sich nicht nur besser bewegen können", sagt Neurowissenschaftler Grégoire Courtine: "Die Nervenzellen werden auch beginnen, Signale zu erzeugen." So könnten neue Fasern und Nervenverbindungen wachsen. Bisher hat das Forschungsteam dieses Wachstum allerdings nur in Tierversuchen beobachtet: "Das sollte beim Menschen genauso ablaufen. Das sind unsere Erwartungen", ergänzt Courtine. Er hat in den vergangenen zehn Jahren immer wieder für Schlagzeilen gesorgt. So war er 2018 an einem Forschungsprojekt beteiligt, bei dem Querschnittsgelähmte dank Implantaten mit Elektrostimulation wieder laufen konnten.

Der Neurowissenschaftler Grégoire Courtine hat auch das Unternehmen Onward Medical mitgegründet. Das Unternehmen hat das neue Elektrostimulationsgerät gebaut und will die sogenannte ARC-EX-Therapie bei Reha-Maßnahmen etablieren.

Erste Zulassung noch in diesem Jahr?

Die Studie hat ein klares Ziel: Sie soll als Grundlage für die Zulassung des Stimulationsgerät in den USA dienen: "Wir gehen davon aus, dass wir noch vor Ende des Jahres mit der Markteinführung beginnen können", sagt Grégoire Courtine. Danach soll auch die Zulassung in Europa beantragt werden.

Ob die Elektrostimulation künftig auf den Therapieplänen steht, hängt laut Professor Winfried Mayr vor allem von den Ressourcen und der Personallage in der Physiotherapie ab. Wegen des Personalmangels sei es schwierig, eine neue, sinnvolle Technik in den klinischen Alltag zu bringen. Der Aufwand für das neue Gerät ist jedoch vergleichsweise gering. In etwa drei Minuten ist das Gerät richtig am Hals positioniert. Vor allem in Europa konnten sich andere Stimulationsgeräte zuletzt nicht langfristig durchsetzen, auch weil der Markt für Querschnittrehabilitation klein ist, vermutet Winfried Mayr.

"Kleine Fortschritte können das Leben verändern"

Querschnittsgelähmte Menschen mit einer kompletten Durchtrennung des Rückenmarks können von dem Gerät nicht profitieren. Das sei viel komplexer, heißt es vom Forschungsteam. Der Mechanismus hinter dem entwickelten Gerät ist dagegen einfach und an und für sich auch keine Innovation.

Das neue Gerät kann aber ohne vorherigen chirurgischen Eingriff verwendet werden kann - ein großer Vorteil, sagt Studienteilnehmerin Melanie Ried: "Ich hätte mir gewünscht, dass es das schon vor 14 Jahren gegeben hätte." Es geht um kleine Fortschritte, die mit dem neuen Gerät vielleicht schneller erreicht werden, sagt die Betroffene Melanie Ried: "Bei Wirbelsäulenverletzungen gibt es keine Wunder. Aber kleine Fortschritte können das Leben verändern."