Baustelle in Berlin
ARD-Themenwoche

Wege zu mehr Wohnraum Umbau-Offensive statt Neubau-Boom

Stand: 13.11.2021 16:03 Uhr

Zuzug, explodierende Mieten und Verdrängung - wie in Städten wie Berlin künftig gewohnt wird, ist eine der sozialen Fragen der Zukunft. Kritiker fordern Alternativen zum Plan der Politik, vor allem Neubau zu fördern.

Wer durch Berlin geht, dem fällt auf: Es wird gebaut in der Hauptstadt, und zwar massiv. Ob in der Innenstadt oder den Außenbezirken: Lücken werden geschlossen, Gebäude aufgestockt und nicht selten fallen Grünflächen den Baggern und Kränen zum Opfer.

Allein im Jahr 2020 meldeten die Bauaufsichtsbehörden mehr als 16.000 fertiggestellte Wohnungen, die meisten davon in den am dünnsten besiedelten Stadtteilen im Osten der Stadt. Doch auch ein solches Wachstum reicht womöglich nicht, um den Bedarf zu decken. Sozialverbände wie Immobilienbranche fordern seit langem mehr Tempo beim Neubau. Schätzungen zufolge fehlen aktuell zwischen 60.000 und 100.000 Wohnungen in Berlin.

Wohnungspolitik wichtiges Thema der künftigen Koalition

Daher wundert es nicht, dass vor der Wahl zum Abgeordnetenhaus im September die Wohnungspolitik eine wichtiges Thema war. Die Wahlgewinnerin und wahrscheinlich künftige Regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey von der SPD kündigte eine Neubauoffensive an. Spannend wird das Ergebnis der laufenden Koalitionsverhandlungen mit Grünen und Linken. Denn beide Parteien sind bei großen Neubauprojekten zurückhaltender. Letztere unterstützt gar den erfolgreichen Volksentscheid zur Enteignung großer Immobilienkonzerne, an dessen Umsetzung die Politik jedoch nicht gebunden ist.

Kritik an Giffeys Bauplänen regt sich auch von außen - etwa von Seiten der Umweltverbände. Der Naturschutzbund NABU fordert die künftige Berliner Regierung auf, nicht einseitig auf Neubau zu setzen. Man befürchte "katastrophale Folgen für die Berliner Stadtnatur". Ausreichende Freiflächen für die Erholung seien ein gleichwertiges Gut wie bezahlbarer Wohnraum. Ähnlich argumentiert der Bund für Umwelt- und Naturschutz Deutschland (BUND). Dessen Berliner Landesvorsitzender Tilmann Heuser kritisiert, dass die Politik in der Hauptstadt an der Wirklichkeit vorbeiplane.

Möglicherweise eher Bedarf an größeren Wohnungen

Der Stadtentwicklungsplan des amtierenden Senats von 2017 sah vor, dass bis 2030 knapp 194.000 neue Wohnungen entstehen sollten, um dem damaligen Defizit und dem erwarteten Zuzugsboom Rechnung zu tragen. Eine ähnliche Zahl, nämlich 200.000, findet sich nun auch im Sondierungspapier der rot-grün-roten Koalitionsgespräche.

Doch das, so Heuser, sei Symbolpolitik und beruhe auf falschen Grundlagen. Schon vor der Corona-Pandemie habe die Bevölkerung in Berlin entgegen den Erwartungen stagniert, nun gehe sie sogar zurück. Außerdem nehme die Zahl der Personen je Haushalt zu. Es brauche also nicht vor allem mehr Wohnungen, sondern größere. Und so errechnet der BUND einen Bedarf an neuen Wohnungen, der je nach Bevölkerungsentwicklung deutlich unter 200.000 liegt.

Ressourcenverbrauch als Problem

Entscheidend sei aber, wie der Bedarf gedeckt werde. Statt einer Neubau-Offensive brauche es eine Umbau-Offensive. "Neubau bedeutet immer Ressourcenverbrauch. Wir sollten uns auf den Bestand konzentrieren", argumentiert Heuser. Dazu zähle der Ausbau von Dachgeschosswohnungen, die Überbauung von Supermärkten oder der Umbau von bestehenden Gebäuden.

Der Gebäudesektor sei für fast die Hälfte der CO2-Emissionen verantwortlich. Außerdem verstärke die Versiegelung von Grünflächen die Auswirkungen des Klimawandels, etwa durch höhere Temperaturen oder Überschwemmungsgefahr.

"Bauen, Bauen, Bauen" schadet dem Klima

Es gibt Ideen, die noch weiter gehen. Der Wirtschaftswissenschaftler und Buchautor Daniel Fuhrhop sagt, wir müssten Wohnraum nicht neu bauen, sondern nur finden - er sei bereits vorhanden. Ein scheinbar überraschender Ansatz angesichts der Bemühungen, die Explosion von Mieten durch eine Vergrößerung des Angebots zu stoppen.

"Das Potenzial des bestehenden Wohnraums ist riesengroß, wir nutzen es nur nicht", sagt Fuhrhop. Ein Grund: Oft lebten Menschen allein in Wohnungen, die zu groß für sie seien, während Mehrpersonenhaushalte keinen ausreichenden Wohnraum fänden. Umzug oder Wohnungstausch würden aber durch steigende Mietpreise unattraktiv. Ein anderer Ansatz seien Untervermietung, gemeinschaftliche Wohnprojekte oder bedarfsgerechter Umbau. Der aber werde weit weniger gefördert als der Neubau.

Das alte Mantra vom "Bauen, Bauen, Bauen" als vermeintlich einfachste Lösung sei jedoch der reinste Klimakiller, so Stadtplanungsexperte Fuhrhop. Investitionen in den Bestand könnten Millionen Tonnen CO2 und viel Geld sparen. Das Umdenken in der Gesellschaft habe zwar begonnen, brauche aber noch viel Zeit und vor allem politische Weichenstellungen.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete Deutschlandfunk Kultur am 03. November 2021 um 13:08 Uhr.