Fußgänger laufen um eine gerade haltende Straßenbahn in Dresden herum.

Verkehrswende Radikale Wege im Nahverkehr gefordert

Stand: 05.11.2021 08:23 Uhr

Das Umweltbundesamt fordert den massiven Ausbau von Bussen und Bahnen, um Klimaziele im Verkehr zu erreichen. Fachleute verlangen ein radikales Neudenken von Verkehr und höhere Preise für fossil betriebene Autos. 

"Die Tickets sind nicht nur viel zu teuer, sie sind auch zu kompliziert", sagt Thorsten Koska über den Nahverkehr. Der Wissenschaftler ist kaum aufzuhalten, wenn er berichtet, was derzeit falsch läuft bei der Mobilität. Er ist Co-Leiter des Forschungsbereichs Mobilität und Verkehrspolitik am Wuppertal Institut. Notwendig sei eine radikale sozial-ökologische Transformation des Verkehrssystems.

Problematische Preisgestaltung im ÖPNV

Für Koska heißt das: Ausbau und Förderung des Umweltverbundes aus ÖPNV, Schiene, Sharing-Systemen, Rad- und Fußverkehr. Das Problem sei die herrschende Privilegierung des Autos, was die Verkehrswende ausbremse. "Erschwingliche Preise sind wichtig. Wenn wir mobil sind, entscheiden wir uns für das bequeme und das günstige Angebot", sagt Koska. Die Preise im ÖPNV seien in den letzten 20 Jahren doppelt so stark gestiegen wie die durchschnittlichen Kosten für den Pkw-Verkehr. Der Bund müsste hier den ÖPNV und dessen Betrieb stärker mitfinanzieren. Unternehmen, die viel Verkehr durch ihre Mitarbeiter oder Logistik erzeugen, sollten per Verkehrserzeugungsabgabe Geld in das System einzahlen.

Der ADAC hat die Preisgestaltung im ÖPNV untersucht und kommt in der Studie zu einem erstaunlichen Fazit. Die Preise einzelner Tickets unterschieden sich je nach Stadt beträchtlich - und das, obwohl die enthaltenen Leistungen überwiegend gleichwertig sind. Preisunterschiede bis zu rund 100 Prozent wurden festgestellt. Für die Attraktivität des ÖPNV wäre laut ADAC eine Vereinheitlichung der Preise auf möglichst niedrigem Niveau wünschenswert.

Koska bestätigt das. Es brauche mindestens landeseinheitliche Tarife, besser noch ein "check-in/check-out"-System. "Das ist eine Art kluger Kilometertarif, wie auch in den Niederlanden üblich. Das Handy berechnet die Strecke automatisch, dem man nur sagt, wo die Reise beginnt und endet", sagt Koska. Eine Flatrate-Option als Ticket wie in Österreich sei auch eine gute Idee. "Das ist ein sinnvoller Weg, um langfristig das Nutzungsverhalten zu ändern. Wenn ich einmal ein gutes und günstiges Ticket habe, lasse ich vielleicht das Auto häufiger stehen."

Alte Bahnstrecken wieder aktivieren

Ein massiver Ausbau des Nahverkehrs sei laut Wuppertal Institut wichtig. Kurzfristig helfen mehr Buslinien, die man schnell einsetzen kann. Mittelfristig sind es neue Strecken und neue Schienen. Alte Bahnstrecken könnte man wieder aktivieren, um hier Zeit zu gewinnen. "Wir brauchen mehr Kapazität und eine höhere Zugdichte. Das können wir durch digitale Systeme und der Kommunikation von Zügen erreichen, damit wir mit mehr Zügen noch sicherer im selben Schienensystem unterwegs sind", sagt Experte Koska.

Unterstützung kommt vom Berliner Thinktank "Agora Verkehrswende". Auch dessen Direktor Christian Hochfeld fordert einen Ausbau des ÖPNV. Es mangele dabei nicht an Vorschlägen, sondern an der Umsetzung. "Für die Verkehrswende gilt es, viele politische Instrumente zu orchestrieren", sagt Hochfeld. "Auf den Policy-Mix kommt es an von den CO2-Flottengrenzwerten für Pkw auf EU-Ebene bis zur Gestaltung der Mobilität vor Ort in den Kommunen."

Mehr Flexibilität auf dem Land

Hochfeld betont dabei, dass man sich nicht aus der Klimakrise hinausbefördern könne. "Den ÖPNV auszubauen und Elektromobilität oder Radverkehr zu fördern, ist nur eine Seite der Medaille. Auf der anderen Seite braucht es eine andere Bepreisung und Finanzierung", sagt der Experte. "Von der Parkraumbewirtschaftung in Städten bis hin zur Kfz-Steuer müssen wir fossil betriebenen Autos die Kosten anrechnen, die sie gesellschaftlich verursachen. Im Moment subventionieren wir noch massiv klimaschädliche Mobilität - 'weiter so' ist keine Option."

Viele Angebote wie E-Roller oder Carsharing finden sich dabei primär in den Großstädten, wo es für private Unternehmen auch rentabel ist. Flexible Angebote gehören aber auch in die Vorstadt oder das Dorf. Forscher Koska vom Wuppertal Institut nennt hier als Beispiel Ridepooling-System wie ein Anrufsammeltaxi 2.0. "Das ist flexibel und fährt nicht nur zu bestimmten Uhrzeiten. Das sammelt mehrere Leute ein, ein Algorithmus plant die Route. Das ist effizient und bündelt Verkehr", sagt der Wissenschaftler. Das System probieren einige Kommunen bereits aus. Es brauche hier einen bundeseinheitlichen Standard und eine finanzielle Unterstützung, um das flächeneckend zu nutzen. Denn eine echte Verkehrswende sei längst überfällig.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete WDR im Echo des Tages am 04. November 2021 um 18:47 Uhr.