Andrea Nahles

Betriebliche Altersvorsorge "Nahles-Rente" erwacht aus dem Tiefschlaf

Stand: 27.12.2022 06:40 Uhr

Die ersten Firmen führen das sogenannte Sozialpartnermodell ein. Beschäftigte verlieren dabei ihren Anspruch auf eine garantierte Rentenhöhe. Dafür steigen ihre Chancen auf eine üppigere Rendite im Alter.

Von Daniel Hoh, hr

Auf den ersten Blick ist das Interesse äußerst gering: Von den 1900 Unternehmen, die der Bundesarbeitgeberverband Chemie (BAVC) angeschrieben hatte, haben sich bis Anfang Dezember erst 50 für die neue "Nahles-Rente" entschieden. Eine Quote von 2,6 Prozent. Dennoch ist Klaus-Peter Stiller, Hauptgeschäftsführer des Verbandes, alles andere als enttäuscht. Schließlich hätten die Betriebe derzeit in der Energiekrise andere Sorgen als ihre Renten-Systeme anzupassen. "Insofern sind die 50 Unternehmen, die bisher Ja gesagt haben, aus unserer Sicht ein sehr gutes Ergebnis."

Stiller ist optimistisch, dass in Zukunft noch deutlich mehr Unternehmen das neue Modell bei sich verankern werden: "Es wird sich durchsetzen, weil es sich durchsetzen muss. Sonst können wir auf Dauer keine attraktive betriebliche Altersversorgung mehr anbieten." Der Verbandschef spielt indirekt auf die finanziellen Risiken an, die Unternehmen mit ihren Pensionsverpflichtungen bislang eingehen mussten. Das neue Sozialpartnermodell soll dagegen für mehr Planbarkeit sorgen.

Abschied von garantierter Rentenhöhe

Als 2017 die damalige Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles das von ihr initiierte Modell im Bundestag vorstellte, wusste sie schon, dass es nicht leicht werden würde, besonders die Arbeitnehmer und Gewerkschaften zu überzeugen. Die neue Betriebsrente sei "eine echte kommunikative Herausforderung", sagte die SPD-Politikerin damals. Kritikern, die von einer Poker- oder Zockerrente sprachen, warf Nahles "unverantwortliche Propaganda" vor. Das Betriebsrentenstärkungsgesetz trat schließlich am 1. Januar 2018 in Kraft.

Kern der "Nahles-Rente" ist die Abkehr von der sogenannten Leistungszusage. Bisher haben die Arbeitgeber ihren Beschäftigten stets eine Garantie auf eine bestimmte Rentenhöhe geben müssen. Um dieses Versprechen einzuhalten, haben sie die eingezahlten Beiträge konservativ angelegt, oft in risikoarme Staatsanleihen. Gab es in der Pensionskasse ein Minus, mussten die Arbeitgeber Geld nachschießen.

Stärkerer Fokus auf den Aktienmarkt

Beim Sozialpartnermodell garantiert der Arbeitgeber keine konkrete Rentenhöhe mehr, sondern gibt eine Beitragszusage. Er garantiert also lediglich, jeden Monat einen bestimmten Betrag in die Pensionskasse einzuzahlen. Das Geld kann dann risikoreicher, zum Beispiel stärker in Aktien, angelegt werden. Wie hoch nachher die Betriebsrente ausfällt, hängt von der langfristigen Entwicklung an den Finanzmärkten ab. In der Auszahlungsphase kann der monatliche Betrag schwanken.

Für die Arbeitgeber liegt der Vorteil gegenüber der klassischen Betriebsrente auf der Hand: "Ich muss nicht damit rechnen, im Zuge einer Garantie und möglicherweise wieder sinkender Zinsen, steigender Inflation, irgendwann mal etwas nachlegen zu müssen", sagt Klaus-Peter Stiller. Der Begriff Zockerrente sei allerdings Quatsch. "Hier wird nicht gezockt, sondern es wird sehr verantwortungsvoll unter Beteiligung des Sozialpartners, also der Gewerkschaft, Geld angelegt."

Nahles-Rente nur bei Tarifvertrag

Voraussetzung für das neue Modell ist eine Tarifvereinbarung zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften. Die "Nahles-Rente" können bislang also nur tarifgebundene Unternehmen einführen. So wie zum Jahreswechsel der inzwischen verstaatlichte Energiekonzern Uniper, der, abgesehen vom Verband der Chemie-Industrie, einer der ersten in Deutschland ist. Das neue Sozialpartnermodell haben ver.di und die Industriegewerkschaft IGBCE mit ausgehandelt.

Judith Kerschbaumer, Leiterin Sozial- und Arbeitsmarktpolitik bei ver.di, ist es wichtig gewesen, dass die Beschäftigten bei Uniper keine schlechtere Alternative erhalten. "Das heißt, die Menschen können selber entscheiden: Nehme ich das neue Modell in Anspruch, Ja oder Nein", sagt sie. Wer sich dagegen entscheide, könne wie bisher in die klassische Betriebsrente mit Leistungszusage einzahlen.

Gewerkschaften reden bei Geldanlage mit

Im neuen Modell zahlt Uniper den Beschäftigten einen Grundbeitrag von zwei Prozent des Bruttojahreslohns. Hinzu kommen ein sogenannter Matching-Beitrag und ein Sicherheitsbeitrag in Höhe von sieben Prozent der geleisteten Beiträge. Der Sicherheitsbeitrag soll Marktschwankungen ausgleichen. Das Geld fließt in einen Pensionsfonds, der über die Privatbank Metzler läuft und in Aktien, Anleihen, Immobilien und Gold investiert.

"Ich gehe ein wenig mehr Risiko ein, wobei das Risiko durch einen Sozialpartner-Beirat begrenzt ist. In dem Beirat sitzen sowohl Arbeitnehmer als auch Arbeitgeber, die die Kapitalanlage managen und kontrollieren", erklärt Kerschbaumer. "Über die lange Zeit, gerade bei jüngeren Beschäftigten, rentiert sich das Modell unseres Erachtens auf jeden Fall."

Jüngere können auf höhere Rente hoffen

Wie hoch die Renditen sein können, hat der Ökonom Olaf Stotz von der Frankfurt School of Finance and Management durchgerechnet. Er bestätigt die ver.di-Aussage, wonach gerade junge Beschäftigte profitierten. "In Zahlen ausgedrückt kann das durchaus 50 Prozent mehr Rente ausmachen", so Stotz. Der Wissenschaftler verdeutlicht das anhand zweier Fallbeispiele: Zunächst eine 35-jährige Angestellte, die bis 67 Jahre arbeitet und jeden Monat 100 Euro in eine Betriebsrente einzahlt.

Entscheidet sich die Frau für das Sozialpartnermodell - in dem Fall mit einer Aktienquote von 100 Prozent - dann bekommt sie später im besten Fall eine monatliche Betriebsrente von inflationsbereinigt 208 Euro. Bei der klassischen Leistungszusage wären es nur 129 Euro. Im mittleren Szenario erhielte sie 151 Euro (94 Euro bei klassischer Betriebsrente), im schlechten Fall 79 Euro (gegenüber 58 Euro). "Bei jüngeren Arbeitnehmern macht sich das Risiko kaum bemerkbar, weil die Renditechancen beispielsweise bei Aktien auf eine lange Sicht viel höher und entscheidender sind", resümiert Stotz.

Ältere müssen das Risiko abwägen

Etwas riskanter sieht es bei einem 55-jährigen Beschäftigten aus, der noch zwölf Jahre lang jeden Monat 100 Euro einzahlt. Je kürzer die Ansparphase, desto seltener kann er die Schwankungen an den Finanzmärkten ausgleichen. Im besten Fall erhält der Betriebsrentner mit dem Sozialpartnermodell 50 Euro, gegenüber 38 Euro mit der klassischen Leistungsgarantie.

Im mittleren Szenario sind es 42 Euro (gegenüber 36 Euro) und im schlechen Fall erzielt er mit der "Nahles-Rente" nur 29 Euro, gegenüber 33 Euro beim klassischen Modell. "Kurzum: Auch für ältere Mitarbeiter ist das neue Nahles-Modell durchaus attraktiv", meint Stotz, nur für sehr risikoscheue Menschen vielleicht nicht.

Zahl der Anwartschaften leicht rückläufig

Ob das neue Modell auch ein neues Interesse an der Betriebsrente in Deutschland wecken kann, müssen die nächsten Jahre zeigen. Seit 2015 ist die Verbreitungsquote in Deutschland leicht gesunken. Laut der letzten Erhebung aus dem Alterssicherungsbericht 2020 kommen in Deutschland 53,9 Prozent der Angestellten später in den Genuss einer Betriebsrente.

Für die Bundesregierung ist das zu wenig. Deshalb will sie die Betriebsrente in Deutschland weiter stärken und bezieht sich im Koalitionsvertrag explizit auf das Sozialpartnermodell. Seit Anfang 2018 haben sich bei der Finanzaufsicht BaFin allerdings nicht mehr als zehn Anbieter gemeldet, die die neue "Nahles-Rente" einführen wollen. Die beiden Angebote von Uniper und der Chemie-Industrie sind darin schon enthalten.