EU-Chemikalienpolitik An Reach scheiden sich weiter die Geister

Stand: 13.12.2006 11:01 Uhr

Es war ein langer und beschwerlicher Weg zur EU-Chemikaliengesetzgebung (Reach). EU-Parlament und die nationalen Regierungen einigten sich schließlich auf einen Kompromiss, der heute formal vom Parlament und dem Ministerrat der EU bestätigt werden muss.In der Debatte standen die Interessen der chemischen Industrie und ihrer Kunden gegen die Forderungen nach möglichst starkem Umwelt- und Gesundheitsschutz. Die Industrie ist weiter unzufrieden mit dem erzielten Kompromiss.

Von Helge Zobel, tagesschau.de

Ein "Programm zur Arbeitsplatzvernichtung" schimpft die Industrie; der Nutzen für unsere Gesundheit könne gar nicht hoch genug eingeschätzt werden, loben die Umweltschützer. Ein schwieriges Feld hat Europas Bürokratie unter dem sperrigen Titel "Verordnung zur Registrierung, Evaluierung und Autorisierung von Chemikalien" - kurz Reach genannt - zu beackern.

Seit Jahren gilt Reach als eines der wichtigsten EU-Projekte für den Verbraucher- und Umweltschutz: Darin wird festgeschrieben, dass bereits bestehende und auch neue chemische Stoffe auf eine giftige Wirkung untersucht werden müssen. Bezahlt werden sollen die Tests von den Herstellern, die dann auch die Beweislast für die Unbedenklichkeit ihrer Produkte tragen sollen.

Das gegenwärtig noch gültige System für Industriechemikalien unterscheidet zwischen Altstoffen, die bis September 1981 auf den Markt gekommen sind, und neuen Stoffen. Neue Stoffe müssen bereits auf etwaige Risiken für die menschliche Gesundheit und die Umwelt geprüft und beurteilt werden, bevor sie in Mengen von zehn Kilogramm oder mehr in den Verkehr gebracht werden dürfen. Im Gegensatz dazu unterliegen Altstoffe nach geltendem Recht nicht den gleichen Prüfanforderungen. Diese Unterteilung soll nun auf EU-Ebene aufgehoben werden.

Umkehr der Beweislast

Zudem müssen bislang die Behörden die Schädlichkeit eines Stoffes nachweisen. Doch dann ist es in der Regel schon zu spät: Die Schäden sind bereits aufgetreten. Dies ändert der im Oktober 2003 von der EU-Kommission vorgelegte Gesetzentwurf. Umwelt- und Verbraucherschützer jubelten, die Wirtschaft rief "Schockschwerenot“.

Rund 30.000 so genannte Altstoffe, die bereits auf dem Markt sind, sollen auf Risiken überprüft werden. Nicht alle auf einmal, aber schrittweise. Drei Jahre nach Inkrafttreten von Reach sollen rund 2600 Stoffe an der Reihe sein, von denen jährlich mehr als 1000 Tonnen in der EU hergestellt oder hierher eingeführt werden. Weitere 20.000 Stoffe, von denen jährlich ein bis zehn Tonnen produziert werden, müssten binnen elf Jahren registriert werden. Für "kleinvolumige" Stoffe sollen nur Mindestdaten abgeliefert werden.

Preise rauf, Beschäftigung runter?

Das kostet Zeit und Geld. Von beidem zuviel, meint die Industrie, und malt sich düstere Szenarien aus: Steigende Kosten, sinkende Umsätze, weniger Arbeitsplätze. Laut einer Vorhersage der Beraterfirma Arthur D. Little in Wiesbaden wird die Chemieproduktion wegen Reach in den nächsten 20 Jahren um ein Viertel zurückgehen.

Der Verband der Chemischen Industrie sieht Kosten von mehreren Milliarden Euro für die nötigen Tests auf sich zukommen, die sich in der weiteren Produktionskette fortschreiben. Der Autobauer Ford hat ausgerechnet, dass Reach den Preis für ein Fahrzeug "im Hundert-Euro-Bereich" erhöhen würde.

Industrie wehklagt

Die Industrie erreichte im Laufe der mehrjährigen Verhandlungen eine Reihe von Erleichterungen. Der Kompromiss sieht vor, dass auch rund 1500 als hochgefährlich eingeschätzte Chemikalien unter bestimmten Bedingungen zugelassen werden. Die von der Industrie besonders kritisierte Pflicht zum Ersatz solcher Stoffe durch weniger gefährliche Alternativen wurde eingeschränkt. Eine Zulassung soll es aber nur geben, wenn diese Stoffe angemessen kontrolliert werden können und es zumindest Pläne für einen Ersatz gibt.

40 Prozent weniger Chemiestoffe?

Einige Stoffe könnten vom Markt verschwinden – nach Schätzungen des Bundesverbands der Industrie bis zu 40 Prozent – einfach, weil der Hersteller den Aufwand für das Registrierungsverfahren scheut oder es ihm zu teuer ist. "Das heißt, wir werden künftig schlechtere Produkte haben, und wir werden teuerere Produkte haben," mutmaßt Klaus Mittelbach vom BDI. "Die Frage ist, welchen Nutzen das für Umwelt und Gesundheit wirklich hat."

Das Drama mit der "Packungsbeilage"

Völlig neu für die Hersteller ist ein Hinweis, wie die Chemikalien eingesetzt werden dürfen – nicht nur in rein technischer Hinsicht, sondern auch unter Umwelt- und Gesundheitsgesichtspunkten.

Sofern sich weiterverarbeitende Betriebe an diesen „Beipackzettel“ halten, dürfen sie mit den Chemikalien machen, was sie wollen, und brauchen ihre Endprodukte nicht noch einmal registrieren lassen. Wird ein chemischer Stoff aber anders eingesetzt, als Hersteller oder Importeur es vorgesehen haben, muss diese "neue" Anwendung nachgemeldet werden.

In der Folge sei mit einem Verlust von Arbeitsplätzen zu rechnen. In Europa gibt es derzeit rund 1,7 Millionen Chemie-Beschäftigte, mehr als ein Viertel davon arbeitet in Deutschland.

EU relativiert die Befürchtungen

Die EU streitet Mehrkosten nicht ab, sieht sie aber in einem anderen Maßstab: Rund 2,3 Milliarden Euro im Zeitraum von elf Jahren. Auch würden nicht 40 sondern nur zwei Prozent der Produkte vom Markt verschwinden. Und wenn diese Stoffe solche wären, deren Anwendung Mensch und Umwelt gefährdet, habe sich Reach schon gelohnt, kommentiert Stefan Scheuer vom Dachverband europäischer Umweltverbände.

Auch der Bund für Umwelt- und Naturschutz wirft der Chemieindustrie vor, die Kosten für Reach gezielt zu übertreiben und belegt dies mit einer entsprechenden Studie. Demnach belaufen sich die Prüfungs- und Registrierungskosten auf maximal 0,05 Prozent des Gesamtumsatzes mit chemischen Produkten.

Die Branche erarbeite sich einen enormen Wettbewerbsvorteil, weil sie anschließend weltweit mit geprüften und quasi zertifizierten Produkten werben könne, so der BUND.

Zudem sei der volkswirtschaftliche Nutzen enorm: Gesündere Menschen seien produktiver und müssten weniger medizinisch versorgt werden. Allein die Einsparungen im Gesundheits- und Umweltbereich der EU-Länder könnten nach Schätzungen der Umweltschützer bis zum Jahr 2020 rund 260 Milliarden Euro betragen.