Nach wochenlangen Protesten Islands Regierung wirft das Handtuch

Stand: 23.01.2009 16:50 Uhr

Seit Wochen fordern Demonstranten auf Island den Rücktritt der Regierung. Sie verlangen, dass sie die Verantwortung für das Finanzdesaster der Insel übernimmt. Heute gab die Regierung nach und verkündete vorgezogene Neuwahlen. Doch jubeln mochte darüber keiner.

Von Claudia Buckenmaier, ARD-Studio Stockholm

Die Nachricht kam wie aus heiterem Himmel. Wie jeden Tag waren die Isländer auch heute auf der Straße, um gegen die Regierung zu demonstrieren. Die Partei von Premierminister Geir Haarde hatte eine Routinesitzung in ihrer Zentrale. Draußen standen die Demonstranten, pfiffen, machten Lärm. Die Politiker sollten wissen, dass sie da waren.

Doch dann, kurz vor 12 Uhr isländischer Zeit (14 Uhr MEZ), kam ein Mitarbeiter der Unabhängigkeitspartei nach draußen, bat sie um Ruhe. "Soeben hat Geir Haarde angekündigt, dass er sein Amt als unser Parteivorsitzender niederlegt. Er hat Krebs und muss dringend operiert werden", teilte er mit. Die Menge vor dem Parteisitz verstummte. "Außerdem schlägt er in Absprache mit den Sozialdemokraten Neuwahlen für den 9. Mai vor." Es war das, was die Demonstranten seit Monaten gefordert hatten. Doch jetzt konnte keiner jubeln.

Langes Taktieren

Gestern noch hatte sich der Premierminister vehement gegen Neuwahlen im Frühjahr ausgesprochen. Er wusste wohl, dass vorgezogene Wahlen nicht mehr zu verhindern waren, nachdem sich immer mehr Sozialdemokraten dafür aussprachen. Die Koalition schien kurz vor dem Auseinanderbrechen. Doch er wollte den Wahltermin so spät wie möglich legen, um die Aussichten für seine Partei zu verbessern. Doch nach der Krebsdiagnose spielte all das keine Rolle mehr.

Island und die Finanzkrise

Der im Nordatlanktik gelegene Staat Island ist zugleich die größte Vulkaninsel der Welt. Seine Fläche beträgt 103.000 Quadratkilometer, etwa so groß wie Bayern und Baden-Württemberg zusammen. Von den rund 313.000 Einwohnern leben mehr als die Hälfte im Großraum um die Hauptstadt Reykjavik. Wie fast alle Orte liegt sie an der Küste. Seit 1944 ist Island von Dänemark unabhängig. Regiert wird Island zurzeit von einer Koalition aus der liberal-konservativen Unabhängigkeitspartei und der Sozialdemokratischen Allianz. Der kleine Staat ist von der weltweiten Finanzkrise stark betroffen und vom Staatsbankrott bedroht. Die Regierung musste die drei größten Banken Kaupthing, Landsbanki und Glitnir übernehmen, weil sie gigantische Auslandskredite aufgenommen hatten, um ihre Expansion zu finanzieren. Die Schulden der drei Banken übersteigen jetzt Islands Bruttoinlandsprodukt um mehr als das Zehnfache (2007: 14,56 Mrd. Euro). Das Land ist auf Stützung durch andere Länder und den Internationalen Währungsfonds (IWF) angewiesen.

Haarde ist zwar noch nicht als Premierminister zurückgetreten, aber ab jetzt führt er eine Regierung auf Abruf. Die Amtsgeschäfte muss wohl jemand anders übernehmen, denn er soll bereits gegen Ende des Monats operiert werden, und zwar im Ausland.

Auch Außenministerin erkrankt

Es ist eine besondere Tragik mit fast schon shakespeareschen Ausmaßen, dass nun die beiden wichtigsten Köpfe der Regierungskoalition schwer erkrankt sind. Außenministerin Ingibjörg Solrun Gisladottir, die zugleich Vorsitzende der Sozialdemokraten ist, wird an diesem Wochenende in Reykjavik zurückerwartet, nachdem sie in Stockholm wegen eines Gehirntumors behandelt wurde. Von ihrer Rückkehr erwarteten viele das Signal für Neuwahlen. Doch als jetzt die Krankheit des Premiers bekannt wurde, überstürzten sich die Ereignisse. Die Partei von Haarde will jetzt Ende März einen Parteitag abhalten, um einen neuen Vorsitzenden und Spitzenkandidaten zu küren.  

Seit Island im vergangenen Oktober dem Staatsbankrott auch dank internationaler Kredithilfen nur um Haaresbreite entkam, fordern die Menschen in Island, dass die Politiker die Verantwortung für das wirtschaftliche Desaster übernehmen müssen. Die Wut in der Bevölkerung wurde immer größer, vor allem seit die Auswirkungen der Krise im Alltag immer stärker spürbar sind. Sie verlangten nach Antworten, doch die Regierung, so die Klage der Demonstranten, die sich jeden Samstag vor dem Parlament versammelten, ignorierte sie. Viele empfanden das als kaltschnäuzig. Ihre Wut entlud sich, als es diese Woche zu den gewalttätigsten Ausschreitungen seit den Protesten gegen den NATO-Beitritt 1949 kam. Einzelne bewarfen den Premier mit Eiern und Schneebällen. Polizisten wurden verletzt. In der Nacht brannten Feuer vor dem Parlament. Nach einer neuen Meinungsumfrage versagen ungefähr 76 Prozent aller Isländer der gegenwärtigen Regierung ihre Unterstützung.

Jetzt hat sich die Forderung der Demonstranten erfüllt, aber so haben sie sich ihren Triumph nicht vorgestellt. Sie wollen weiter auf die Straße. Sicher, ihre Forderung nach Neuwahlen hat sich erfüllt, aber die Verantwortlichen für die Krise sind damit noch lange nicht zur Rechenschaft gezogen. Jetzt nur nicht nachgeben, lautet die Botschaft, mit der sie auch morgen wieder vors Parlament ziehen wollen.