Hintergrund

US-Wirtschaftspolitik in der Finanzmarktkrise Der Markt allein hat's nicht gerichtet

Stand: 17.09.2008 14:38 Uhr

Statt auf die Selbstheilungskräfte des Marktes zu setzen, springt der Staat ein - aber nicht immer. Die US-Wirtschaftspolitik widerspricht momentan allen konservativen Prinzipien. Zu Recht, meinen Experten. Sowohl bei der Lehman-Pleite als auch bei der AIG-Rettung habe sie "mit Augenmaß gehandelt", sagte HWWI-Konjunkturforscher Bräuniger tagesschau.de.

Von Ralph Sartor, tagesschau.de

Erst die Regierungshilfe für Bear Stearns, dann die Quasi-Verstaatlichung der Hypothekenfinanzierer Fannie Mae und Freddie Mac - die US-Wirtschaftspolitik in der Finanzmarktkrise widerspricht allen konservativen Prinzipien, die auf die Selbstreinigungskräfte der Märkte setzen. Analysten fragen, ob die US-Regierung durch ihre Hilfen Erwartungen weckte, die sie dann bei Lehman Brothers einfach nicht erfüllen konnte.

"Die Regierung hat mit ihrer Unterstützung für den Deal zwischen JP Morgan und Bear Stearns einen Präzedenzfall geschaffen", sagte der Analyst Brad Sorensen vom Finanzdienst Charles Schwab & Co. der Nachrichtenagentur AFP. Dies habe letztlich die Verhandlungen über den Verkauf von Lehman Brothers erschwert, da jeder potenzielle Käufer ebenfalls auf Hilfe der Regierung gehofft habe.

Kehrtwende nach der Kehrtwende

Mit Lehman kam dann ein Umdenken der US-Regierung. Finanzminister Henry Paulson schloss Staatshilfen bis zuletzt aus, daraufhin war keine Bank bereit, bei Lehman einzusteigen - der Insolvenzantrag folgte. Nun die erneute Kehrtwende: Obwohl Paulson bis zuletzt betont hatte, die Suche des Versicherers AIG nach Kapital sei "ein Bemühen des privaten Sektors", sprang nun doch die US-Notenbank Fed ein und gewährte einen Kredit über 85 Milliarden Dollar.

Ein Bankrott des Versicherers könne die wegen der Finanzmarktkrise bereits angeschlagenen Märkte untergraben, begründete die Fed ihre Entscheidung. Das Weiße Haus erklärte, man unterstütze den Rettungsplan. Die angekündigten Schritte sollten die Finanzmärkte stabilisieren und den Schaden für die Wirtschaft begrenzen, sagte Sprecher Tony Fratto. Auch Finanzminister Paulson erklärte, er stehe hinter dem Milliardenkredit.

"Mit Augenmaß gehandelt"

Warum also nun die erneute Kehrtwende? "Die Bedeutung einer AIG-Insolvenz für die konjunkturelle Entwicklung hat die US-Regierung als deutlich höher eingeschätzt", sagt der Konjunkturexperte des Hamburgischen WeltWirtschaftsInstituts, Michael Bräuninger, gegenüber tagesschau.de. Im Gegensatz zur Pleite von Lehman Brothers hätte ein Zusammenbruch von AIG deutliche "Effekte auf die reale Wirtschaft" gehabt. Und auch bei Lehman habe die Fed reagiert und den Märkten Gelder zur Verfügung gestellt, um die Folgen abzumildern. In beiden Fällen - sowohl bei Lehman als auch bei AIG - hätten Regierung und Fed angemessen und "mit Augenmaß gehandelt". Auch bei künftigen Krisen seien Rettung und Nicht-Rettung eines Konzerns wieder vorstellbar.

"Irgendwann kommen die Zitrusbauern"

Die Einschätzung wird von den meisten Analysten geteilt. "Das Risiko einer erneuten Pleite innerhalb von nur drei Tagen wäre unseres Erachtens nicht nur für das amerikanische Finanzsystem, sondern auch für das globale eine nicht zu verkraftende Belastung gewesen", kommentierte LBBW-Analyst Martin Peter. Auch die Entscheidung, Lehman nicht unter die Arme zu greifen, wird begrüßt: Um einen Ansturm von Bittstellern auch aus anderen Problembranchen zu verhindern, habe die Regierung hier keine Alternative gehabt, urteilte der Analyst Cary Leahy von Decision Economics: "Jeder könnte sonst mit dem Hut in der Hand ankommen und um Rettung bitten: erst die Autoindustrie und dann irgendwann die Zitrusbauern."

Vor einer solchen Entwicklung warnte das Institut für Wirtschaftsforschung in Halle nachdrücklich: Sollten in den USA weitere Institute ins Wackeln geraten und die US-Regierung erneut eingreifen, "würde die Gefahr heraufbeschworen, dass die USA selbst an die Grenze ihrer Zahlungsfähigkeit geraten", sagte der Weltwirtschaftsexperte des Instituts, Axel Lindner, der "Hannoverschen Allgemeinen Zeitung". Zu befürchten seien gravierende Auswirkungen auf die Stabilität der Finanzmärkte weltweit. Linder nannte eine solche Entwicklung unwahrscheinlich, doch die Gefahr sei in den letzten Tagen nicht geringer geworden.