Männer schwenken aserbaidschanische und türkische Fahnen
Analyse

Konflikt um Bergkarabach Was will Erdogan?

Stand: 01.10.2020 18:28 Uhr

Bezahlte Söldner, türkische Kampfjets und Drohnen - im Konflikt mit Armenien unterstütze die Türkei Aserbaidschan nicht nur verbal, so der Vorwurf. Was ist bekannt und was sind Motive der Türkei?

Eine Analyse von Silvia Stöber, tagesschau.de

Am Mittwochabend wurde der Galata-Turm im Zentrum von Istanbul in den Farben der Flagge Aserbaidschans angestrahlt. Es war ein Zeichen der Solidarität an den turksprachigen Bruderstaat, für den Präsident Recep Tayyip Erdogan gern die Parole "Eine Nation, zwei Staaten" verwendet.

Die Hilfe geht weit über Zeichen der Verbundenheit hinaus. Die Türkei engagiere sich militärisch aufseiten Aserbaidschans im Konflikt mit Armenien, das zwischen den beiden Ländern liegt und die Konfliktregion Bergkarabach kontrolliert, die völkerrechtlich zu Aserbaidschan gehört. So lauten Vorwürfe an die Adresse Ankaras.

Am Mittwoch teilte das armenische Verteidigungsministerium mit, ein türkischer Kampfjet F-16 habe ein armenisches Kampfflugzeug SU 25 abgeschossen, der Pilot sei ums Leben gekommen. Auch wenn Aserbaidschan und die Türkei dies dementierten, blieb die armenische Regierung bei der Version und präsentierte Fotos, die Trümmer eines abgestürzten Kampfjets zeigen. Wie er zum Absturz kam, lässt sich daraus allerdings kaum abschätzen.

Die aserbaidschanische Luftwaffe verfügt traditionell über Kampfflugzeuge aus russischer Herstellung. Noch im April besuchte eine Delegation aus Baku Produktionsstätten in Russland, wo SU-25 und MiG-35 gebaut werden. Die Türkei als NATO-Mitglied setzt F-16-Kampfjets aus US-Produktion ein. Laut einer Pressemitteilung des aserbaidschanischen Verteidigungsministeriums landeten F-16 der türkischen Luftwaffe am 31. Juli in Baku, um an der gemeinsamen Militärübung "TurAz Qartali-2020" teilzunehmen.

Beistandsklausel für Armenien

Armenien behauptet, die F-16 der Türkei seien nach Ende der Übungen in Aserbaidschan geblieben und unterstützten dessen Streitkräfte. Mehrfach hätten türkische Kampfjets seitdem den armenischen Luftraum verletzt. Sie seien auch an einem Angriff auf die Region Vardenis in Armenien beteiligt gewesen, bei dem der Kampfjet abgeschossen worden sei.

Diese Aussage ist insofern heikel, als Armenien durch seine Mitgliedschaft "Organisation über den Vertrag der kollektiven Sicherheit" (OVKS) auf Beistand durch Russland setzen könnte - diese mit der NATO vergleichbare Klausel gilt zwar nicht für Bergkarabach, aber für armenisches Territorium. Dennoch sieht die Regierung in Jerewan derzeit davon ab, die OVKS um Beistand zu bitten. Das sagte Armeniens Ministerpräsident Nikol Paschinjan nach einem Telefonat mit Wladimir Putin. Darüber hinaus hatten Russland und Armenien 2010 den Verbleib eines russischen Militärstandorts in Armenien bis 2044 im Gegenzug für Sicherheitsgarantien und die Lieferung russischer Waffen vereinbart.

Hinweise auf Einsatz türkischer Drohnen

Doch gibt es weitere Hinweise auf eine mögliche türkische Beteiligung durch Videomaterial, das Armenien und Aserbaidschan von den Gefechten veröffentlichen. Bei diesen kommen in großem Umfang Drohnen zum Einsatz. Aserbaidschan setzte bei früheren Auseinandersetzungen unbemannte Fluggeräte aus Israel ein.

Im Juni kündigte das Verteidigungsministerium in Baku den Kauf türkischer Drohnen vom Typ Bayraktar an. Während es keine offizielle Mitteilung über die Lieferung dieser Drohnen an Aserbaidschan gab, weisen Experten auf Bildmaterial des Verteidigungsministeriums in Baku hin. Es enthalte Aufnahmen, die typisch für Bayraktar-Drohnen seien. Unbestätigt sind Berichte darüber, wonach diese Drohnen von türkischen Piloten gelenkt werden.

Darüber hinaus behauptete das armenische Verteidigungsministerium am Donnerstag, die türkische Luftwaffe habe das Kommando über die Luftangriffe gegen die Region Bergkarabach übernommen.

Die türkische Regierung selbst erklärt immer wieder ihre Unterstützung für Aserbaidschan im Konflikt mit Armenien, macht aber kaum Angaben zu konkreten Maßnahmen. Aserbaidschans Präsident Ilham Alijew wiederum sagte, die Türkei sei keine Konfliktpartei und leiste lediglich moralische Unterstützung.

Ausländische Kämpfer im Konfliktgebiet?

Für heftige Diskussionen sorgen Berichte über ausländische Kämpfer, die in das Konfliktgebiet gebracht worden seien. So hieß es, kurdische Kämpfer seien aus dem Irak nach Bergkarabach gebracht worden, um auf armenischer Seite zu kämpfen. Mangels Belegen sind diese Behauptungen aber kaum haltbar.

Konkreter sind Berichte über Kämpfer aus Syrien, die von einer türkischen Sicherheitsfirma für einen Einsatz in Aserbaidschan angeworben worden sein sollen. Der britische "Guardian", die französische Zeitung "L'Express", die Agentur Reuters sowie die Nahost-Expertin Elizabeth Tsurkov fanden Zeugen, die die Rekrutierung von Söldnern in Syrien bestätigten. Die Rede ist von 300 bis 4000 Männern.

Diese kämpften unter türkischer Führung für die "Syrische Nationalen Armee" (SNA), ihnen sei versprochen worden, nur für den Schutz von Infrastruktur in Aserbaidschan eingesetzt zu werden, schrieb Tsurkov in Tweets. Es gebe aber bereits Informationen über getötete und verletzte Syrer von der Frontlinie in Aserbaidschan.

Russische Regierung "zutiefst besorgt"

Nun teilte auch das russische Außenministerium mit, Informationen über "illegale bewaffnete Gruppen, insbesondere aus Syrien und Libyen" vorliegen zu haben, die sich an den Auseinandersetzungen im Bergkarabach-Konflikt beteiligten.

"Wir sind zutiefst besorgt über diese Prozesse, die nicht nur zu einer noch größeren Eskalation der Spannungen in der Konfliktzone führen, sondern auch langfristige Bedrohungen für die Sicherheit aller Länder in der Region schaffen", heißt es in einer Pressemitteilung. Die betroffenen Staaten sollten den Einsatz ausländischer Terroristen und Söldner verhindern beziehungsweise für ihren sofortigen Rückzug sorgen.

"Erdogan sucht die Eskalation"

Zwar unterstützten die Türkei und Russland in diesem Konflikt von Anfang die gegnerischen Seiten, aber bislang nahm die Türkei immer noch Rücksicht auf die russischen Ansprüche auf eine Sicherheitszone im Südkaukasus.

Der Grünen-Bundestagsabgeordnete Cem Özdemir sagt zu den Motiven des türkischen Präsidenten: "Erdogan sucht die Eskalation, weil er spürt, wie seine Macht langsam zerrinnt. Seine kriegerischen Töne sollen zu Hause die Reihen schließen und vom dramatischen ökonomischen Niedergang ablenken."

Mit der Unterstützung Aserbaidschans bedient Erdogan nationalistische und revanchistische Stimmungen unter seinen Anhängern, die er in den vergangenen Jahren auch in Bezug auf den Südkaukasus geäußert hat. Zudem verfolgt er wie Putin immer offener machtstrategische Ambitionen - so in Syrien und Libyen. Auch dort unterstützen beide Staaten jeweils gegnerische Kräfte. Im Schwarzen Meer kommen sich beide Staaten durch russische Aufrüstung nach der Annexion der Krim ebenfalls immer näher.

Bislang konnten sich Erdogan und Putin noch immer arrangieren. Nur der Abschuss eines russischen Kampfjets durch die türkische Luftwaffe 2015 führte zu einer längeren Krise.

Auch im Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan wird Russland handeln müssen, will es seine sicherheitsstrategischen Ansprüche nicht aufgeben. Zudem könnte Armenien ohne Russland zwischen der Türkei und Aserbaidschan aufgerieben werden.

Die besondere Verantwortung der Türkei

Özdemir erinnert an die besondere Verantwortung der Türkei gegenüber dem östlichen Nachbarn. Dass Erdogan auch in diesem Konflikt zündele und die Unterstützung der Türkei zugesagt habe, "ist angesichts der historischen Schuld der Türkei gegenüber Armenien besonders unerträglich".

Der Grünen-Politiker, der sich seit längerem in der Region engagiert, fordert: "Wir dürfen nicht länger nur Zaungast spielen, während Putin und Erdogan in der europäischen Nachbarschaft Fakten schaffen, die keinen Deut zur nachhaltigen Konfliktlösung beitragen." Die Bundesregierung müsse sich im Rahmen der EU-Ratspräsidentschaft für einen Waffenstillstand einsetzen. "Gemeinsam mit der französischen Regierung, eine der Vorsitzenden der Minsker Gruppe der OSZE, sollte die Bundesregierung neue Ansätze entwickeln, die den Menschen vor Ort endlich eine friedliche Perspektive bieten können."