Frank-Walter Steinmeier
Porträt

Bundespräsident Steinmeier Auf dem Weg zum Bundesbürgermeister?

Stand: 03.10.2020 01:15 Uhr

Frank-Walter Steinmeier versucht in seiner Rede zur Deutschen Einheit Zuversicht zu verbreiten, aber auch Konflikte zu benennen - eine Gratwanderung. Nebenbei erfindet er gerade die Rolle des Bundespräsidenten neu.

Von Corinna Emundts, tagesschau.de

Es wird Frank-Walter Steinmeiers vierte Rede zur Deutschen Einheit - und er hat sich für diesen 3. Oktober wieder viel vorgenommen. Viele Ostdeutsche fühlten sich bis heute nicht gehört, geschweige denn verstanden, so eine seiner Erkenntnisse aus Gesprächen der letzten Zeit. Auch, dass die Politik wieder mehr zuhören müsse. Das Verhältnis von Ost und West in Deutschland sei für ihn ein roter Faden seiner Präsidentschaft. "Ich freue mich, wenn sich das vermittelt", sagt er im Gespräch mit tagesschau.de. Er ist keiner, der die alten und neue Gräben hierzulande schönredet. Es brauche wieder "Runde Tische", hatte er bereits 2019 öffentlich gesagt.

Im vergangenen Jahr wurde seine Rede dazu durch den Terroranschlag in Halle am selben Tag überschattet. Damit verbunden sei für ihn der eindrücklichste Moment in den dreieinhalb Jahren Präsidentschaft entstanden: "Der Morgen danach an der Synagogen-Tür in Halle - weil mir da klar wurde, wovor uns diese einfache Tür geschützt hat. Das wäre ein Massaker geworden. Es hätte unsere Gesellschaft auf die nächsten Jahre hinaus noch einmal ganz anders geprägt."

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier spricht im Schloss Bellevue.

Ob Corona oder Deutsche Einheit - Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier treiben spürbar die Themen um, über die er spricht.

"Er organisiert öffentlichen Dissens"

Ortstermin Bellevue. Steinmeier steht noch unter dem Eindruck eines sehr fordernden Gesprächs mit Kritikern der Corona-Politik, die er in seinen Amtssitz zum Gespräch geladen hatte - als er plötzlich nachdenklich schweigt bei der Frage, ob dieses präsidiale Amt ihn, den bisherigen Spitzenbeamten und Berufspolitiker, verändert habe. Spontan fällt ihm dazu nichts ein - und reagiert einfach mit einer Gegenfrage: "Was vermuten Sie denn?"

Das ist typisch Steinmeier: Nachdenklich, zuhörend, auch mal ohne eine Antwort sein. Dabei scheint er auf dem Weg zu sein, die Rolle des Bundespräsidenten neu zu definieren. "Durch seine Art, aufsuchend unterwegs zu sein und einen durch Argumente inspirierenden öffentlichen Dissens zu organisieren, prägt er einen sehr eigenen Stil", sagt der Politologe Karl-Rudolf Korte. Es seien "Bundesbürgermeisterthemen", die er nah an den Menschen aufgreife.

So begegnete Steinmeier auch den Corona-Kritikern: Nachfragend, aber nicht nur. Argumentierend, aber nicht belehrend. Der 64-Jährige versucht, Politik gerade in Corona-Zeiten als lernendes System transparent zu machen. Demokratie brauche Kritik, auch in Corona-Zeiten, betont Steinmeier oft. "Aber dass eine Maske gleich die ganze Freiheit eines Menschen einschränkt, das kann ich nicht nachvollziehen."

Steinmeier und seine Gäste an der Kaffeetafel

Derzeit sind es auch die Kritiker der Corona-Maßnahmen, die dem Bundespräsidenten Sorge bereiteen. Nicht ihre Kritik an den Maßnahmen, aber dass diese gleich umschlage in so grundsätzlichen Verdruss am Staatswesen.

"Der Behauptung, man dürfe nichts mehr sagen, etwas entgegnen"

Deswegen führe er überhaupt solche Gespräche mit Bürgern zu verschiedensten Themen, die mit dem etwas banal klingenden Titel "Kaffeetafel" schon zur Institution in seiner Amtszeit geworden sind. "Ich will denen, die behaupten, man dürfe in dem Land nichts mehr sagen, etwas entgegensetzen und damit zeigen, dass diese Behauptung in Deutschland nicht stimmt." Für ihn sei das Abstand halten und Maske tragen eine "überschaubare Last, die ich eher als unvermeidbare Belästigung empfinde". Dass der Unmut darüber bei einigen gleich so umschlage "in derart grundsätzliche Kritik an Staat und Politik, das bereitet mir große Sorge", sagt Steinmeier mit ernstem Blick.

Den parteipolitischen Blick abgelegt

Das neue Amt hat ihn durchaus verändert, so scheint es. Jemand, der ihn gut kennt, sagt, dass er den parteipolitischen Blick auf die Gesellschaft völlig abgelegt habe. Ein anderer aus seinem Umfeld sagt, das erste Jahr sei durch den abrupten Wechsel aus der aktiven operativen und gestaltenden Politik in die zurückhaltendere präsidiale Rolle das Schwierigste gewesen. Sei es für ihn selbst, sei es in der Außenwirkung.

Gelegentlich musste er seine Rolle erst finden, etwa bei der Frage, ob man dem Iran zum Jahrestag der Islamischen Revolution wirklich gratulieren muss - wie im vergangenen Jahr "auch im Namen meiner Landsleute" geschehen, was ihm nicht nur Kritik vom Zentralrat der Juden eingebracht hatte. Dieses Jahr entschied er sich dagegen.

Hätte er bei der Wahlrechtsreform eingreifen sollen?

Bei der sich dahin schleppenden Wahlrechtsreform hätte sich mancher eine Einmischung des Staatsoberhauptes gewünscht, etwa mit der Ernennung einer Unabhängigen Expertenkommission - und zwar mit Blick auf die Parteien, die sich seit Jahren damit schwer tun, ein Konzept zu finden, um das mit jeder Wahl erfolgende Anwachsen der Bundestagsmandate zu regulieren oder gar zu reduzieren. Hier entschied sich Steinmeier bisher für präsidiale Zurückhaltung.

Was sich nicht verändert hat, ist offenbar seine Art, auf Menschen zuzugehen und sie miteinander ins Gespräch zu bringen. So wurde er bereits als Gerhard Schröders Kanzleramtschef in schwierigen rot-grünen Verhandlungen etwa zum Atomausstieg von den Beteiligten beider Parteien wahrgenommen und geschätzt. Wie ein Hausarzt der Fraktionen wirkte er damals oft in zuhörender Manier am Rande ihrer Sitzungen.

Bei den Feierlichkeiten zum Tag der deutschen Einheit trifft Bundespräsident Steinmeier Bürger

Im Gespräch bleiben, zuhören und fair streiten - für Steinmeier die Basis einer lebendigen Demokratie.

"Auf ein unpolitisches Amt hätte ich mich nicht beworben"

Wenn es sein muss, greift er in das politische Geschehen ein - auch im neuen Amt. Spürbar war das gleich im ersten Amtsjahr, als er nach den gescheiterten "Jamaika"-Koalitionsverhandlungen die Parteien, auch die damals zögerliche SPD, zur Räson rief statt mit Neuwahlen zu spekulieren. Hier kommt der Gestaltungswille des ehemaligen Politikers durch: "Ich hätte mich nicht für dieses Amt beworben, wenn ich es für ein unpolitisches Amt gehalten hätte."

Kaum einer seiner Vorgänger im Amt hat so viele unterschiedliche politische Funktionen durchlebt wie Steinmeier. Der Volljurist und langjährige Kanzleramtschef unter Rot-Grün wurde unter Merkel zwei Mal zum Außenminister berufen und von der SPD zum Fraktionschef wie Kanzlerkandidat - eine Häutung vom Schröder-Mann zum eigenständig agierenden Politiker und öffentlich sichtbar werdenden Sozialdemokraten, der sich im übrigen mit Kanzlerin Merkel immer gut verstand.

"Demokratie-Missionar" statt Suche nach Exoten-Thema

Man könnte sagen, der Mensch Steinmeier, als Spitzenbeamter im Hintergrund gestartet, kam der Gesellschaft über seine politische Laufbahn immer näher - bis hin zum eigenen Wahlkreis in Brandenburg, den er sich in seinen Außenministerjahren holte und pflegte. Diese vielen Veranstaltungen und Bürger-Begegnungen dort hätten ihn geprägt, sagt er.

Ein langjähriger politischer Begleiter Steinmeiers sagt: "Für den ist der Chef der Freiwilligen Feuerwehr genauso interessant wie irgendein Staatschef." Es mag aber auch mit seiner Herkunft aus einfacheren Verhältnissen zu tun haben: Er wuchs als Sohn eines Tischlers und einer 1945 aus Breslau geflüchteten Mutter in Ostwestfalen auf.

Nach dreieinhalb Jahren dieser Präsidentschaft ist Steinmeiers Handschrift auch inhaltlich erkennbar - seine Sorge um die Verwundbarkeit der Demokratie und das Werben für diese Form stellt er vorne an. Steinmeier habe sich kein Exotenthema gesucht, sagt Politologe Korte, "sondern ist ein Demokratie-Missionar geworden".

Natürlich stellen sich inzwischen, anderthalb Jahre vor der nächsten Bundespräsidenten-Wahl, einige die Frage, ob Steinmeier nochmals antritt. Er will sich dazu noch nicht äußern. Hört man in sein Umfeld hinein, so ist die Entscheidung noch offen. Er wird es abwägen, sich für dieses Amt nochmals zu bewerben, das er als Ehre am Ende einer politischen Laufbahn empfindet.

Zu unklar, wie nach dem Abtreten der langjährigen Kanzlerin und einem mutmaßlich männlichen Nachfolger an der Spitze der nächsten Bundesregierung das gesellschaftliche Bedürfnis nach einer Frau als Staatsoberhaupt sein wird. Aufdrängen wird er sich dann vermutlich nicht. Aber wenn parteiübergreifend der Ruf nach einer zweiten Amtszeit erfolgt, wird er ernsthaft darüber nachdenken - so jedenfalls klingt es zwischen den Zeilen durch.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete Deutschlandfunk "Hintergrund" am 12. Februar 2017 um 18:40 Uhr.