Kinder in Syrien gehen auf ihrem Schulweg an von Luftangriffen zerstörten Gebäuden vorbei. (Archivbild vom 21.11.2021)
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Bericht des Auswärtigen Amtes "Katastrophale" Menschenrechtslage in Syrien

Stand: 04.07.2023 06:00 Uhr

Getötete Zivilisten, willkürliche Verhaftungen, drohender Hunger: Ein vertrauliches Papier des Außenministeriums, das der NDR einsehen konnte, nennt die Menschenrechtslage in Syrien "katastrophal". Eine sichere Rückkehr Geflüchteter könne nicht gewährleistet werden.

Von Reiko Pinkert, NDR

Normalerweise werden Lageberichte des Außenministeriums in regelmäßigen Abständen erstellt und aktualisiert. Sie dienen dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) sowie den Verwaltungsgerichten als Entscheidungshilfe in Asylverfahren. Der letzte reguläre Lagebericht zu Syrien erschien allerdings vor 13 Jahren.    

Jetzt hat das Außenministerium einen neuen, wenn auch nicht regulären, Bericht erstellt. Da die deutsche Botschaft in dem Bürgerkriegsland seit 2012 geschlossen ist, beruht das aktuelle Lagebild vorrangig nicht auf eigenen Erkenntnissen, sondern unter anderem auf Informationen von Organisationen der Vereinten Nationen wie dem Flüchtlingswerk UNHCR.

"Keine sichere Rückkehr möglich"

In dem Lagebericht, den der NDR einsehen konnte, heißt es, dass "eine sichere Rückkehr Geflüchteter für keine Region Syriens und für keine Personengruppe gewährleistet, vorhergesagt oder gar überprüft werden" könne. Erstellt hat ihn das Außenministerium Ende März.

Im Mai - also nur wenige Wochen später - hat die Ministerpräsidenten-Konferenz mit den Regierungschefinnen und Regierungschefs der Bundesländer allerdings beschlossen, dass eine Abschiebung "erheblich straffälliger Ausländer in ihre Herkunftsländer mit Abschiebestopp nicht per se ausgeschlossen werden soll". Zu diesen Ländern zählt Syrien.

2022 mehr als 1000 Zivilisten getötet

Dabei ist die Menschenrechtslage in dem Bürgerkriegsland laut dem Lagebericht des Außenministeriums "katastrophal". Durch türkische Drohnenanschläge, schwere Artillerieangriffe des syrischen Regimes sowie Luftschläge der russischen Luftwaffe kämen immer wieder Zivilisten ums Leben.

Laut dem "Syrischen Netzwerk für Menschenrechte" (SNHR) wurden im vergangenen Jahr mehr als 1000 Zivilisten getötet, darunter etwa 250 Kinder. Zuletzt wurden bei russischen Luftangriffen mindestens neun Zivilisten getötet und etwa 30 verletzt.

Das Regime und seine Verbündeten greifen laut dem Lagebild auch gezielt kritische Infrastruktur an. Diese Ziele werden "teilweise mit Präzisionsraketen und zielgenauen Waffensystemen von Kampfflugzeugen unter Beschuss genommen".

Gefahr durch Minen

Dazu komme die dauerhafte Bedrohung durch so genannte Kampfmittel. In dem Lagebericht heißt es, dass es zwischen 2019 und 2022 allein 12.350 Vorfälle mit Minen und Blindgängern gegeben habe. Besonders problematisch sei, dass es sich bei einem Drittel der betroffenen Gebiete um landwirtschaftliche Flächen handele. Dies habe "gravierende Auswirkungen auf die landwirtschaftliche Produktion" und somit auf die Nahrungsgrundlage für viele Menschen in Syrien.

Die Kosten für Lebensmittel sind dem Lagebild zufolge inzwischen mehr als achtmal so hoch wie 2020. Mehr als 90 Prozent der Bevölkerung in Syrien lebt demnach unterhalb der Armutsgrenze, 68 Prozent der Menschen seien von Hunger bedroht. Die Zahl der chronisch unterernährten Kinder stieg zuletzt deutlich an.

Durch das Erdbeben am 6. Februar dieses Jahres habe sich die wirtschaftliche und humanitäre Lage noch einmal "deutlich verschärft". Mehr als 15,3 Millionen Menschen sind demnach mittlerweile von humanitärer Hilfe abhängig. Darüber hinaus seien "41 Prozent der öffentlichen Krankenhäuser nicht oder nur teilweise funktionsfähig". Gleichzeitig sind laut dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes immer mehr Menschen auf Gesundheitshilfen angewiesen.

Opposition und Medien werden unterdrückt

In dem Bericht heißt es weiter, dass die "systematische Verfolgung von Oppositionsgruppen sowie anderen regimekritischen und -feindlichen Akteuren" unverändert andauere. Die Anti-Terror-Gesetze würden dafür missbraucht, gegen Regimekritiker vorzugehen.

Auch sei "schwerste Repression gegen Medienschaffende" alltäglich. Weiter heißt es in dem Dokument, dass "die Meinungs- und Pressefreiheit in den regimekontrollierten Gebieten des Landes massiv eingeschränkt" sei.

Willkürliche Verhaftungen

Ein "allgegenwärtiges Phänomen" seien willkürliche Verhaftungen sowie das sogenannte Verschwindenlassen. Polizei, Justizvollzugsorgane sowie Sicherheits- und Geheimdienste wendeten in den Gefängnissen systematisch Folterpraktiken an. Dabei komme es regelmäßig zu Tötungen.

Vor allem Frauen und Mädchen seien immer wieder Opfer von Vergewaltigungen sowie systematischer Gewalt unter anderem an Grenzübergängen, militärischen Kontrollstellen und in Haftanstalten. Auch sei die Zahl der Übergriffe und Verhaftungen durch nicht-staatliche Akteure wie der Türkei-nahen "Syrischen Nationalarmee" (SNA) unverändert hoch.

Zwangsrekrutierung im ganzen Land

Darüber hinaus häufen sich Berichte, wonach wehrpflichtige Männer zwangsrekrutiert werden. Teilweise werden diese von Geheimdienstmitarbeitern abgeholt oder an Checkpoints und Grenzübergängen festgenommen, um sie dem Militär zuzuführen. Laut dem Lagebericht gibt es in Syrien "keine reguläre oder gefahrlose Möglichkeit, sich dem Militärdienst durch Wegzug in andere Landesteile zu entziehen".

In Syrien sind seit Beginn des Bürgerkriegs Anfang 2011 nach UN-Angaben etwa 6,8 Millionen Menschen geflohen, die meisten von ihnen in die Nachbarländer Türkei und Jordanien. In Deutschland haben bis Ende 2022 knapp 680.000 Menschen aus Syrien Schutz gesucht.

Anmerkung der Redaktion: Eine geschwärzte Version des Lageberichts lag FragDenStaat bereits seit Mitte Juni vor.

Benedikt Strunz, NDR, tagesschau, 04.07.2023 06:47 Uhr