Original-Akten liegen in den Archiven des des Internationalen Suchdienstes (ITS) des Roten Kreuzes in Bad Arolsen (Archivbild vom 16.04.2014).
exklusiv

Arolsen Archives Arbeitskultur der Angst

Stand: 24.05.2023 11:43 Uhr

Mitarbeitende werfen der Direktion der Arolsen Archives laut Kontraste-Informationen Mobbing vor. Im weltweit größten Archiv zu NS-Opfern herrsche eine toxische Atmosphäre. Kulturstaatsministerin Roth hat eine Untersuchung veranlasst.

Von Daniel Laufer, Daniel Schmidthäussler und Lisa Wandt, rbb

Mitarbeitende bringen schwere Anschuldigungen gegen die Leitung der Arolsen Archives vor, früher bekannt als Internationaler Suchdienst (ITS). Dem ARD-Politikmagazin Kontraste liegt ein Dossier über eine "Kultur der Angst", eine "toxische Arbeitsatmosphäre" und verbale Übergriffe vor. Zusammengestellt hat es der Rechtsanwalt Daniel Vogel.

Er sagt, er habe über sein privates Umfeld von den Vorgängen erfahren. Nach eigenen Angaben hat Vogel mit 25 Personen gesprochen, die an dem Zentrum zur Erforschung der NS-Verfolgung im nordhessischen Bad Arolsen arbeiten oder gearbeitet haben. Kontraste konnte mit einer ganzen Reihe von Betroffenen sprechen, die wesentliche Vorwürfe bekräftigten - darunter auch Personen in Führungspositionen.

Die Rede ist von Mobbing und regelrechten Zermürbungstaktiken. Dafür verantwortlich machen sie die Direktorin und deren Stellvertreter, die die Einrichtung seit 2016 und 2017 leiten. Die Zustände hätten sich im Laufe der Amtszeit "verschlimmert". Seither haben laut Vogel mindestens 25 hoch qualifizierte Menschen ihre Arbeitsverträge vorzeitig beendet. In einem Fall soll die Direktorin einer Person gesagt haben, wenn diese einen Aufhebungsvertrag nicht akzeptiere, werde ihr betriebsbedingt gekündigt.

Angstzustände und Panikattacken

Auch außerhalb der Arbeitszeit soll die Direktion Mitarbeitende behelligt haben. Der stellvertretende Direktor, lautet ein Vorwurf, kontaktiere seine Kollegen mit Videoanrufen auf ihren privaten Mobiltelefonen. Wer dies als übergriffig empfinde und stattdessen um ein Telefonat bitte, werde als "kompliziert" dargestellt.

Die Direktorin soll, wie es in dem Dossier heißt, Mitarbeitende im Urlaub kontaktiert haben, um ihnen Arbeitsaufträge zu erteilen, die nicht dringlich gewesen seien. Der Hinweis auf den Urlaub sei durch die Direktorin ignoriert worden.

Wer bei der Direktion einmal in Ungnade gefallen sei, den habe sie isoliert. Dem stellvertretenden Direktor werfen Mitarbeitende laut dem Dossier "psychologische Kriegsführung" vor. Unter anderem habe er Mitarbeitenden gedroht, er werde ihnen das "Leben zur Hölle" machen. Betroffene berichten von dauerhaften Angstzuständen und Panikattacken.

"Ich schlafe keine Nacht mehr ruhig", sagt eine Person. "Ich habe tagelang geweint" bekennt eine andere. Eine Person gibt laut dem Dossier an, sie habe stundenlang "mit zitternden Händen" vor dem Computer gesessen und über Formulierungen in E-Mails an die Direktion nachgedacht.

Laut einem Schreiben des Betriebsrats, das Kontraste vorliegt, soll die Direktion einer Mitarbeiterin aus ihrem direkten Umfeld gekündigt haben. Der Betriebsrat hat dagegen nach eigenen Angaben Widerspruch eingelegt. "Im Vorfeld der Kündigung hatte die betroffene Person Missstände bei den Arolsen Archives angesprochen, was im Nachhinein aus unserer Sicht zur fristlosen Kündigung geführt hat."

Vogels Dossier könnte diese Darstellung stützen: Demnach soll die Direktion versucht haben, eine Mitarbeiterin zu entlassen, die die Direktorin auf das Verhalten ihres Stellvertreters angesprochen habe. Bei der Betroffenen soll es sich um die Tochter eines Holocaustüberlebenden handeln.

Bereits in den 2000er-Jahren hatten Mitarbeitende Mobbing an den Arolsen Archives beklagt, die Vorwürfe richteten sich gegen die damalige Direktion.

Brief an Claudia Roth

Die Berichte der Mitarbeitenden passen kaum zum von den Arolsen Archives propagierten Selbstverständnis: "Vielfalt, Respekt und Demokratie". Die Einrichtung mit mehr als 200 Mitarbeitenden hat das weltweit umfassendste Archiv zu den Opfern des Nationalsozialismus und ist Teil des UNESCO-Weltdokumentenerbes.

Akten zu rund 17,5 Millionen Menschen sind dort verzeichnet. Verwaltet wird die Organisation von einem Internationalen Ausschuss (IA) mit Vertretern aus 16 Nationen, finanziert aus dem Haushalt der Kulturbeauftragten der Bundesregierung (BKM).

Über den Anwalt Vogel haben sich die Betroffenen Anfang März an den IA und an Claudia Roth gewandt. Als Staatsministerin für Kultur ist die Grünen-Politikerin in der Bundesregierung verantwortlich für die Arolsen Archives. Vogel bat Roth, "vermittelnd tätig zu werden". Das Kontraste vorliegende Dossier ist Bestandteil eines Briefs, den er ihr Anfang März geschickt hat, die Betroffenen sind anonymisiert.

In einem vorliegenden Schreiben vom 7. März zeigt Roth sich "betroffen" und fordert: "Erkannte Missstände müssen sofort abgestellt werden." In den Tagen darauf reiste sie selbst nach Bad Arolsen und besuchte das Zentrum.

Eine Kommission unter der Leitung einer externen Rechtsanwältin soll die Sachverhalte jetzt untersuchen. Die Beschäftigten der Arolsen Archives sind aufgerufen, ihre Erfahrungen "bezüglich Vorwürfen eines Fehlverhaltens der Direktion" bis Anfang Juni schriftlich einzureichen. Eingesetzt wurde diese Kommission durch den IA - im Auftrag von Roth als BKM. Ihr Sprecher teilte heute mit: "Auf Grundlage des Abschlussberichts und etwaiger Zwischenberichte der Kanzlei wird der Internationale Ausschuss über mögliche arbeitsrechtliche Konsequenzen während und nach der Untersuchung beraten und diese wenn nötig beschließen."

Keine Stellungnahme der Direktion

Im Gespräch mit Kontraste wollte sich weder die Direktorin noch ihr Stellvertreter persönlich zu den gegen sie vorgebrachten Vorwürfen äußern. Auf die Frage, ob sie Vogels Brief an Roth denn kenne, sagte die Direktorin am Telefon: "Nein, eigentlich nicht." Sie verwies auf ihre Pressestelle und die Untersuchung, die infolge ebendieses Briefs eingeleitet wurde. Auch ihr Stellvertreter bat darum, sich an die Pressestelle der Arolsen Archives zu wenden.

Diese teilte Kontraste mit, von dem Brief schon am 7. März erfahren zu haben. "Die von Ihnen angesprochenen, anonym erhobenen Vorwürfe nehmen wir sehr ernst." Man begrüße, dass der IA eine Anwaltskanzlei mit der Untersuchung zur Aufklärung des Sachverhalts beauftragt habe. "Die Direktion ist gehalten, nicht zu den Vorwürfen Stellung zu nehmen, bis die laufende Untersuchung hierzu abgeschlossen ist." Fragen zu den Vorwürfen könnten die Arolsen Archives bis dahin nicht beantworten.

Bislang mag es sich nur um Anschuldigungen handeln, die nicht bewiesen sind - doch diese sind schwerwiegend. Unter den Mitarbeitenden rumort es gewaltig.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichteten die hessenschau am 12. Juni 2023 um 19:30 Uhr.