Der Kameramann Siegbert Schefke
Interview

Montagsdemonstration '89 "Wir Ostdeutsche können stolz sein"

Stand: 09.10.2019 04:30 Uhr

Seine Bilder gingen um die Welt: Siegbert Schefke filmte heimlich die Leipziger Montagsdemo vom 9. Oktober 1989. Im Interview mit tagesschau.de spricht er über seine Erlebnisse und das Erbe der friedlichen Revolution heute.

Als Journalisten aus dem Westen schon keinen Zugang mehr hatten, filmten Siegbert Schefke und Aram Radomski heimlich die Montagsdemonstration in Leipzig vom 9. Oktober 1989. Es war die zum damaligen Zeitpunkt größte Demonstration. Rund 70.000 Menschen gingen auf die Straße.

tageschau.de: Wann fiel der Entschluss, die Demonstration zu filmen?

Siegbert Schefke: Ich hatte immer das Gefühl: Wenn etwas passiert in der DDR, wenn die Menschen auf die Straßen gehen, dann passiert es in Leipzig. Ich war schon am 2. Oktober mit meinem Freund Aram in Leipzig. Da war schon eine Demonstration von einigen Tausend Menschen. Aber wir konnten an dem Tag keine Bilder machen, weil wir Angst hatten und weil wir keinen Kamerastandpunkt hatten. Wir sind bei der Demonstration mitgelaufen und haben uns nicht getraut, die Kamera aus der Tasche zu holen und zu filmen.

Das sollte uns am 9. Oktober nicht noch einmal passieren, ohne ein Bild zurückzukommen. Deswegen auch die Flucht auf einen Kirchturm.

"Ein schönes Gefühl, das mit angestoßen zu haben"

tagesschau.de: Zum damaligen Zeitpunkt wusste man nicht, ob die Demonstration friedlich enden würde. In China waren die Proteste gewaltsam niedergeschlagen worden. Warum haben Sie diese Gefahr in Kauf genommen?

Schefke: Um den Massenprotest bekannt zu machen. Die SED-Zeitungen schrieben, da seien ein paar Betrunkene in Leipzig auf der Straße. Die würden trinken und Schaufensterscheiben einwerfen. Ich wollte mit Aram beweisen, dass das Volk friedlich demonstriert. Wir wollten allen zeigen, dass da nicht der Mob auf der Straße ist, sondern das Volk. Wir wollten damit auch erreichen, dass es die Woche darauf möglichst doppelt so viele sind. Und so ist es dann auch passiert. Das waren dann 150.000 und nicht mehr 70.000. Das ist schon ein schönes Gefühl, das mit angestoßen zu haben.

Zur Person

Siegbert Schefke, Jahrgang 1959, studierte an der Hochschule für Bauwesen. 1986 war er Mitbegründer der Umweltbibliothek in Berlin. Ab 1987 arbeitete er als freiberuflicher Fotograf, Journalist und Kameramann für verschiedene politische TV-Magazine und westliche Zeitungen. Er dokumentierte die Umweltzerstörung und den sich formierenden Widerstand in der DDR.

1989 lieferte er zusammen mit Aram Radomski die ersten Bilder von den Leipziger Montagsdemonstrationen. Heute arbeitet Schefke für den MDR und ARD-aktuell.

Aram sagte auf dem Hinweg nach Leipzig, als wir Militärkonvois überholt haben: "Die fahren doch nicht umsonst nach Leipzig. Die haben was vor." Wir haben kaum noch ein Wort geredet vor Angst: Was machen wir da? Wie endet dieser Tag? Das war die Frage.

Egon Krenz, der damalige Staatsratsvorsitzende, hatte ja noch im Sommer gejubelt, dass die chinesische Lösung eine tolle Sache ist. Das war ein Signal: Die chinesische Lösung könnte es auch in Ostdeutschland geben.

"Das wird Europa und die Welt verändern"

tagesschau.de: War Ihnen die historische Bedeutung der Situation damals bewusst?

Schefke: 30 Jahre später kann man natürlich viel schwadronieren, aber wir dachten uns schon, wenn morgen die Bilder im Westfernsehen laufen, dann wird das nicht nur die DDR und Deutschland verändern. Das wird Europa und die Welt verändern. Es klingt zwar ein bisschen großspurig, aber mit diesem Gefühl sind wir aus dem Taubendreck auf der Kirchturmspitze gestiegen.

Es war ein Signal, dass geschätzte 70.000 Menschen friedlich demonstrieren - und nächste Woche gehen sogar doppelt so viele hin. Das war das Ziel. Und vielleicht haben wir dazu beigetragen, den Mauerfall 14 Tage vorzuziehen.

tagesschau.de: In Ihrem Buch "Als die Angst die Seite wechselte" beschreiben Sie auch die Repression des Staates, die sie selbst erfahren haben. Die Stasi bespitzelte sie unter dem Namen "Operativer Vorgang Satan". Sind sie heute noch wütend?

Schefke: Ich hatte ja die letzten Jahre DDR-Arrest. Ich durfte nicht mehr nach Polen oder nach Ungarn reisen. Das hat mich schon ziemlich genervt an diesen Stasi-Leuten, dass sie meinten, mir vorschreiben zu müssen, wie mein Leben und mein Alltag aussieht. Das wollte ich mir einfach nicht mehr gefallen lassen.

Heute bin ich persönlich sehr zufrieden. Ich weiß, dass die heutige Gesellschaft noch nicht vollkommen ist. Aber sie ist hundertmal besser, als das was ich in der DDR erleben musste. Man muss immer wieder an Stellschrauben drehen. Wir leben in einer Demokratie und auch in der Demokratie kann man immer wieder Sachen verbessern und das sind mehr als nur ein paar Schlaglöcher auf der Straße, das ist auch unser Denken und unser Handeln. Es gibt genug zu tun und heute freue ich mich, dass es Greta Thunberg gibt und dass meine Töchter da auch mitmachen.

Das Erbe der Friedlichen Revolution

tagesschau.de: 30 Jahre danach wird wieder um das Erbe der friedlichen Revolution gestritten. Die AfD hat in Brandenburg sogar Wahlkampf gemacht mit dem Slogan "Vollende die Wende". Wird die friedliche Revolution heute missbraucht?

Schefke: Wir leben in einer freien Gesellschaft. Wenn du früher gesagt hättest, Honecker ist doof, wärst du ins Gefängnis gegangen. Heute können Menschen sagen, Merkel ist doof und es passiert ihnen nichts. Es wurden die Menschen auch befreit, damit sie das dürfen. Aber es ärgert mich natürlich ein bisschen. Es ärgert mich manchmal total. Ich weiß nämlich gar nicht, was es hier zu meckern gibt. Wir haben eine Arbeitslosigkeit von unter fünf Prozent. Uns geht es so gut wie noch nie. Die jungen Leute können lernen und studieren, was sie wollen.

Und natürlich setzen sich heute Menschen auf das Thema friedliche Revolution. Aber gerade die westdeutschen Einpeitscher haben vor 30 Jahren nichts hier erlebt, die haben keinen Finger krumm gemacht. Und die wollen jetzt die Wende vollführen? Man sollte lieber Demut zeigen.

tagesschau.de: Als die Mauer fiel, waren Sie 30 Jahre alt. Waren Sie damit an einem Ziel angelangt?

Schefke: Es ist mir eine unheimlich Freude, heute als freier Mensch, als freier Bürger durchs Brandenburger Tor zu gehen und zu denken: Vor 30 Jahren standest du 50 Meter vor dem Brandenburger Tor, hast durchgeschaut, hast die Siegessäule gesehen und hattest das Gefühl, es dauert bestimmt noch 35 Jahre, bis du zur Siegessäule gehen darfst.

Heute gehe ich bewusst ein-, zweimal im Jahr durch und freue mich, dass dort Menschen aus der ganzen Welt sind. Ich finde das Erreichte unheimlich toll und dass wir Ostdeutsche stolz sein können, eine Diktatur gestürzt zu haben. Wir haben es geschafft, ohne einen Schuss in die Luft die Mauer einzureißen und das macht mich schon besonders stolz.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete MDR aktuell am 09. Oktober 2019 um 10:18 Uhr.