Françoise Cactus und Brezel Göring bei einem Auftritt in Hamburg am 08.04.2024 (Quelle: dpa/jazzarchiv)

Berlin Interview | Brezel Göring zum 60. Geburtstag der verstörbenen Künstlerin: "Françoise war eher Autorin, als nur als nur Sängerin und Schlagzeugerin"

Stand: 05.05.2024 12:25 Uhr

Vor drei Jahren starb die Berliner Musikerin Françoise Cactus mit 56 Jahren. Ihr Lebenspartner Brezel Göring hat ihren Nachlass in dem Band "Oh Oh Mythomanie" vereint. Am Sonntag wäre sie 60 Jahre alt geworden. Beides wird nun gefeiert.

rbb: Françoise Cactus war ein Freigeist, der nie wirklich erwachsen werden wollte. Als Sie sich 1992 kennengelernt haben, wollte sie mit Musik eigentlich nichts zu tun haben, sondern sie wollte ganz andere künstlerische Dinge machen.
 
Brezel Göring: Oh ja, unter anderem wollte sie Autorin werden. Sie hatte ihre sexy Klamotten weggegeben und sich einen grünen Mantel und so eine Art lederne Arzttasche gekauft. Sie war ganz seriös zu der Zeit und hat angefangen zu schreiben.

Uns ist dann Stereo Total dazwischen gekommen, das unser Miteinander sehr bestimmt hat. Dadurch ist das Schreiben an den Rand gerückt. Als ich ihren Nachlass geordnet habe, habe ich neben der Musik, aber auch viele Bilder, Zeichnungen und Gemälde, sowie Liedtexte oder Prosa entdeckt. Im Grunde genommen, das ist mein Eindruck, war sie eher Autorin, als nur Sängerin und Schlagzeugerin.

Eine Autorin gefangen im Körper einer Musikerin - kann man das so sagen?
 
Das klingt super. Sie hat das Leben als Musikerin und die Aufmerksamkeit auf der Bühne geliebt. Es ist was los und alle schreien, das fand sie toll - sonst hätte sie es nicht gemacht. Wenn ich jetzt ihre Texte lese, sehe ich sehr viel Sorgfalt. In dem Band ist ein kompletter Roman enthalten. Von dem gab es vielleicht 15 oder 16 verschiedene Fassungen. Sie hat den über die Jahre immer wieder umgeschrieben. Es steckt so viel Arbeit da drin. Das ist fast unmenschlich. Insofern glaube ich, dass sie das sehr ernst genommen hat.

Welche Geschichte wird in dem Roman erzählt?
 
Eigentlich ist es ihre eigene Geschichte - sozusagen als Science Fiction in die Zukunft projiziert. Die Protagonistin ist auch Französin, aber keine Musikerin, sondern Schauspielerin, die mit einer Freundin aus den 80er Jahren und einem Freund in den Urlaub fährt. Die Schauspielerin ist bekannt und die anderen beiden nagen am Hungertuch. Dadurch entstehen Spannungen und es brechen alte Kämpfe wieder auf. Sie verlieben sich alle drei in einen Gigolo, der mit allen dreien gleichzeitig eine Affäre hat.
 
Mich hat es sehr amüsiert, dass in dem Buch aus der Position des Gigolos auch sein Tagebuch zu lesen ist. Aber François sind verschiedene terminliche Ungenauigkeiten unterlaufen. Sie hat für sich selbst als Anmerkung drunter geschrieben: 'Stimmen die Daten überhaupt?'

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Ist das mit drin?
 
Naja, ich habe es rausgenommen - aber die Fehler habe ich drin gelassen.

Neben unveröffentlichten Texten, einem unveröffentlichten Roman und Zeichnungen - was ist noch alles in dem Band "Oh Oh Mythomanie" enthalten?
 
Ich habe noch ein paar Songtexte ergänzt, die mit den Prosa-Texten korrespondieren. Es gibt auch Bilder aus den Kneipen, in denen sie sich aufgehalten hat. Es gab einen Polaroid-Fotografen, der jede Nacht durch die Gaststätten tourte. Er hat immer Jagd auf François gemacht, weil er wusste, die wird mindestens drei oder vier Fotos machen. Es gibt kistenweise Polaroid-Bilder, immer mit verschiedenen Leuten. Sie wollte das immer in ein Kunstwerk umwandeln und jetzt ist es hier im Buch abgebildet.

Nun wird am 5. Mai im SO36 Françoise und das Buch gefeiert. Wie machen Sie das?
 
Ich hatte mich eigentlich ganz gut gefühlt, weil ich dachte, es ist mir gelungen, dieses Buch zu veröffentlichen, mit dem Françoise 15 Jahre nicht fertig geworden ist. Jetzt kommt es raus. Jetzt gibt es auch noch eine Veranstaltung im SO36. Sie wäre stolz gewesen. Ich habe aus Berlin verschiedene Künstler:innen eingeladen, wo ich dachte, die passen da ganz gut rein. Manche haben Françoise gar nicht gekannt, weil sie einfach viel zu jung sind. Aber es ist natürlich wahnsinnig schwierig. Denn jetzt kommen ganz viele Leute aus der Vergangenheit und fragen, warum sie nicht dabei sind.

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Insofern konnte ich es nur falsch machen. Aber trotzdem, es gibt elf Konzerte hintereinander, jedes dauert eine Viertelstunde. Das ist an sich schon Nervenstress. Aber in den fünfminütigen Umbaupausen liest Mariola Brylowska, das ist eine polnische Freundin von Françoise mit einem ähnlich hübschen Akzent, kurze Passagen aus dem Buch. Das heißt, es wird ein vollgepacktes Programm mit einen Film über Françoise.

Ist das der berühmte Super-8-Film?
 
Wir haben in den letzten Monaten ihres Lebens Psychoanalyse gespielt. Ich war der Therapeut und habe ihr Fragen gestellt, was wir eine Stunde lang aufgenommen haben. Was ich am interessantesten fand, habe ich zusammengeschnitten. Ich war ganz verblüfft, dass eine ganz neue Person zum Vorschein gekommen ist.
 
Wir haben sehr häufig Super-8-Filmaufnahmen gemacht. Ich habe ihr beispielsweise gesagt, dass sie einfach mal tanzen soll, obwohl es keine Musik gab. An den unterschiedlichsten Orten weltweit haben wir dieses Spiel gemacht. Der 15-minütige Film ist ihre Psychoanalyse und ihre Tänzerei.

Vielen Dank für das Gespräch!

Das Interview mit Brezel Göring führte Marion Brasch, Radioeins.
 
Der Text ist eine gekürzte und redaktionell bearbeitete Fassung. Das Gespräch können Sie auch im Audio-Player nachhören.

Sendung: Radioeins, 02.05.2024, 20:10 Ihr