Olaf Scholz im Bundestag
Analyse

Regierungserklärung Scholz sieht Eiszeit mit Moskau aufziehen

Stand: 22.06.2022 19:51 Uhr

Es war ein nachdenklicher Kanzler, der im Bundestag seine Politik erklärte. Er berichtete von seinem Kiew-Besuch und forderte einen Marshallplan für die Ukraine. Große Themen, doch die Debatte darüber bleibt sachlich-nüchtern.

Eine Analyse von Mario Kubina, ARD Berlin

Als erstes muss sich Olaf Scholz bei dieser Bundestagssitzung in Geduld üben. Die vorangegangene Fragestunde zieht sich hin, vor zehn Minuten schon wäre der Kanzler eigentlich an der Reihe gewesen. Sollte ihn das ärgern, lässt er sich nichts anmerken. Ruhig sitzt er auf der Regierungsbank, vor ihm eine Mappe mit Bundesadler. Dann wird der Tagesordnungspunkt "Regierungserklärung" aufgerufen, und Scholz schreitet zum Rednerpult, öffnet die Mappe - und liest vom Blatt ab.

Sollte es nach der ungewöhnlich lebhaften Generaldebatte in der zurückliegenden Haushaltswoche die Erwartung gegeben haben, dass das Parlament auch diesmal eine rhetorische Sternstunde erlebt, so wurde sie enttäuscht. Der Kanzler fällt in alte Vortragsmuster zurück, hält sich mit wenigen Ausnahmen an sein Manuskript und spricht punktuell so leise, dass er auf der Pressetribüne nur schwer zu verstehen ist.

Scholz fordert "Marshallplan" für Ukraine

Dabei hat das, was er zu sagen hat, Gewicht: Scholz berichtet von seiner Reise in die Ukraine, von zerstörten Häusern und zerschossenen Autos. Von Städten wie Irpin und Butscha, die er "Orte des Grauens" nennt. Aber dass diese Orte von den russischen Besatzern befreit werden konnten - darin sieht der Kanzler ein Zeichen der Hoffnung. Die Eindrücke von vergangener Woche hätten ihn an die Bilder zerstörter deutscher Städte nach dem Zweiten Weltkrieg erinnert: "Und wie damals das kriegszerstörte Europa braucht heute auch die Ukraine einen Marshallplan für den Wiederaufbau."

Kanzler Scholz verteidigt Vorgehen bei Waffenlieferungen an die Ukraine in Regierungserklärung

Karen Münster, ARD Berlin, nachtmagazin 00:17 Uhr

Deshalb habe er den ukrainischen Präsidenten zum anstehenden G7-Gipfel auf Schloss Elmau in Oberbayern eingeladen. Wolodymyr Selenskyj soll dort per Video zugeschaltet werden, wie auch beim morgigen EU-Gipfel und dem NATO-Gipfel in der kommenden Woche. Um die zusätzlichen Hilfen für die Ukraine zu organisieren, will der Kanzler im Rahmen der deutschen G7-Präsidentschaft eine internationale Expertenkonferenz einberufen. Mit dem Marshallplan finanzierten die USA nach dem Zweiten Weltkrieg mit vielen Milliarden US-Dollar den Wiederaufbau in Deutschland und anderen europäischen Staaten.

Scholz will "jeden Quadratmeter" NATO-Gebiet verteidigen

Deutschland wisse aus seiner eigenen Geschichte heraus, was es den Verbündeten zu verdanken habe, so ein nachdenklicher Scholz. An die Adresse der EU-Länder, die sich durch das russische Regime besonders bedroht fühlen, richtet er klare - fast schon martialische - Worte: "Wir werden jeden Quadratmeter des Bündnisgebiets verteidigen!" Und er erneuert sein Versprechen, dass Deutschland seinen Teil zur Stärkung der sogenannten NATO-Ostflanke beitragen und seine Präsenz im Ostseeraum ausbauen werde. Dafür gibt es Applaus - auch von der Union, der größten Oppositionsfraktion.

Im Verhältnis zwischen Deutschland und Russland sieht der Kanzler wegen des Überfalls auf die Ukraine eine neue Eiszeit aufziehen. Eine Partnerschaft mit dem "imperialistischen Russland" unter Wladimir Putin sei unvorstellbar. Scholz warnte aber davor, daraus falsche Schlüsse zu ziehen: "Es wäre unklug, unsererseits die NATO-Russland-Grundakte aufzukündigen", sagte er. Denn die Grundakte bekräftige genau die Prinzipien, gegen die Putin verstoße: den Verzicht auf Gewalt, die Achtung von Grenzen, die Souveränität unabhängiger Staaten. Daran solle der russische Präsident immer wieder erinnert werden, so Scholz.

Merz spricht von Zäsur in europäischer Geschichte

Auch Friedrich Merz greift in seiner Rede zu großen Begriffen. Der Unionsfraktionschef spricht von der "tiefsten Zäsur" in der europäischen Geschichte seit dem Zweiten Weltkrieg. Aber Merz zeigt sich diesmal weniger angriffslustig als bei der zurückliegenden Generaldebatte, als er vor Scholz sprechen durfte und diesen dazu brachte, Teile seiner Rede frei zu halten. Heute aber ist es Merz, der auf den Kanzler antwortet - und der hört dem Oppositionsführer schlicht zu. Höflich, aber weitgehend reglos.

Dann versucht es Merz mit dem Hinweis, große Teile der SPD-Fraktion würden der Regierungserklärung samt Aussprache fernbleiben. Was denn da los sei bei den Sozialdemokraten, will er von den Vertretern des Regierungslagers wissen. Doch an diesem Tag kann er den Kanzler nicht aus der Reserve locken. Was damit zusammenhängen dürfte, dass die hinteren Reihen des Parlaments diesmal insgesamt spärlich besetzt sind.

Merz lobt Scholz für Kiew-Besuch

Im Übrigen gibt sich Merz bei diesem Auftritt eher staatsmännisch: Bundesregierung und Bundestag müssten ihrer Verantwortung für die Ukraine nachkommen. Den Besuch des Kanzlers in Kiew nennt er ein wichtiges Zeichen der Solidarität mit einem "unverändert geschundenen Land und seinen Menschen". Und die jüngsten Spannungen zwischen Litauen und Russland belegen aus seiner Sicht, dass Putin in der Ukraine gestoppt werden müsse: "Wenn das nicht gelingt, macht er weiter." Dafür bekommt Merz auch Applaus aus den Reihen der Grünen, die sich seit Wochen in ihren frühen Warnungen vor Putin bestätigt sehen.

Dennoch macht Katharina Dröge eine "riesige Leerstelle" in der Rede von Merz aus. Damit meint die Grünen-Fraktionschefin die "Klimakrise", auf die der CDU-Chef auch bei diesem Auftritt nicht eingegangen sei. Ansonsten verzichtet auch Dröge weitgehend auf verbale Attacken und betont - ebenso wie FDP-Fraktionschef Christian Dürr - wie wichtig es sei, der Ukraine eine Perspektive für einen EU-Beitritt zu geben. Und in einem Anflug von Pathos fügt Dürr hinzu: Deutschland stehe an der Seite der Menschen in der Ukraine, die ihr Leben riskierten, um ihre Freiheit zu verteidigen.

Mehr Emotion erlaubt sich das Parlament diesmal nicht, eine lebhafte Debatte bleibt aus. Dabei gäbe es an diesem Tag ein Publikum dafür: Die Besuchertribünen im Plenarsaal sind rappelvoll.

Jim-Bob Nickschas, Jim-Bob Nickschas, ARD Berlin, 22.06.2022 18:10 Uhr