Analyse

Ein Jahr "Wir schaffen das" Merkels drei große kleine Worte

Stand: 04.09.2021 10:22 Uhr

Vor einem Jahr verkündete die Kanzlerin erstmals "Wir schaffen das". Der Satz elektrisierte ihre Anhänger und provozierte ihre Gegner. Dabei war Merkel nicht die erste, die den Satz nutzte. Zuvor sagte bereits SPD-Chef Gabriel die drei Worte.

Eine Analyse von Julian Heißler, ARD-aktuell

Es war ihr nicht einfach so herausgerutscht. Fast eine Viertelstunde hatte Angela Merkel am 31. August 2015 bereits über die Herausforderungen durch die immer weiter steigende Zahl der Flüchtlinge gesprochen, bevor sie den Satz sagte, der wohl wie wenige mit ihrer Kanzlerschaft verbunden bleiben wird.

Merkel war zu Gast in der Bundespressekonferenz, um sich den Fragen der Hauptstadtjournalisten zu stellen. Doch schon durch ihre einleitenden Worte machte sie deutlich, dass das Flüchtlingsthema in diesem Sommer das dominierende Thema der deutschen Politik sein würde. Wenige Tage zuvor hatte das Bundesinnenministerium bekannt gegeben, in diesem Jahr mit 800.000 Flüchtlingen zu rechnen - eine Zahl, die sich zwölf Monate später bestätigen sollte.

Entschlossene Regierungschefin

Die Kanzlerin versuchte nun, die Bevölkerung auf diese Menschen vorzubereiten. Sie beschrieb die Aufgaben, die auf den Staat und die Zivilgesellschaft zukommen würden, sprach von beschleunigten Asyl-Verfahren, dem Ausbau von Erstaufnahmeeinrichtungen, der Verteilung der Kosten, der bevorstehenden Integrationsarbeit.

Merkel gab sich entschlossen: "Wann immer es darauf ankommt, sind wir - Bundesregierung, Länder und Kommunen - in der Lage, das Richtige und das Notwendige zu tun", sagte sie. Und schließlich: "Deutschland ist ein starkes Land. Das Motiv, mit dem wir an diese Dinge herangehen, muss sein: Wir haben so vieles geschafft - wir schaffen das!"

Mit Bedeutung aufgeladen

In den vergangenen zwölf Monaten hat dieser Satz eine kaum vorstellbare Kraft entwickelt. Für Merkels Gegner steht er für alles, was aus ihrer Sicht in der Flüchtlingspolitik der Bundesregierung schiefgelaufen ist. Die AfD, zum Zeitpunkt von Merkels Pressekonferenz in Umfragen bei gerade einmal vier Prozent, nutzte den Satz, um sich über die Kanzlerin lustig zu machen. "Cicero"-Chefredakteur Alexander Marguier bezeichnete Merkel wegen der drei Worte als "Sprücheklopferin". Die Holocaust-Überlebende Ruth Klüger hingegen nannte den Satz bei einer Gedenkveranstaltung im Bundestag ein "bescheiden anmutendes und dabei heroisches Wahlwort".

"Wir schaffen das" wurde so von beiden Seiten mit einer schier unglaublichen Bedeutung aufgeladen. Dabei war der Satz zunächst kaum umstritten. Die Berichte über Merkels Pressekonferenz vor einem Jahr gaben ihn überwiegend so wieder, wie er gemeint war: als Vertrauensvotum in die deutsche Verwaltung und Zivilgesellschaft. Doch diese Wahrnehmung hielt nicht lange an.

Provokation für Merkels Gegner

Denn wenige Tage nach der Pressekonferenz, am 5. September, beschloss Merkel gemeinsam mit ihrem österreichischen Amtskollegen, in Ungarn festsitzenden Flüchtlingen die Ausreise zu ermöglichen. Daraufhin schlugen sich immer mehr Menschen über die Balkanroute nach Deutschland durch. Es dauerte mehr als eine Woche, bis die Bundesregierung sich entschloss, an der Grenze zu Österreich Grenzkontrollen einzuführen. Der Staat wirkte zeitweise von der hohen Zahl ankommender Flüchtlinge überfordert.

In dieser Situation wandelte sich Merkels Satz zur Provokation für die Gegner ihres Kurses. Die Trennlinie verlief quer durch die Große Koalition. Nicht nur die Schwesterpartei CSU distanzierte sich immer wieder vom Credo der Kanzlerin. Bayerns Ministerpräsident Horst Seehofer, in dessen Freistaat die meisten Flüchtlinge erstmals deutschen Boden betraten, hielt immer einen ordentlichen Sicherheitsabstand zu den drei Worten. Er könne sich den Satz "beim besten Willen nicht zu eigen machen", sagte er noch vor wenigen Wochen - kurz nach den Anschlägen von Würzburg und Ansbach.

Streit in der Koalition

Auch SPD-Chef Sigmar Gabriel nutzt das "Wir schaffen das" mittlerweile für politische Attacken. "Der Satz klingt schön, aber er reicht nicht aus", sagte er etwa im August der "Funke-Mediengruppe". Wenige Tage zuvor hatte er bereits davor gewarnt, "Merkels Satz" einfach zu wiederholen.

Er sagte: "Merkels Satz". Dabei hätte Gabriel auch gut von sich selbst sprechen können. Am 22. August 2015, eine Woche vor der Pressekonferenz der Kanzlerin, veröffentlichte die SPD einen Video-Podcast ihres Parteivorsitzenden zum Thema Flüchtlinge.

Gut fünf Minuten lang lobt Gabriel die Arbeit freiwilliger Helfer und der Behörden und beschwört die Kraft des Staates. "Wir sind ein starkes Land mit großer Mitmenschlichkeit", so der SPD-Chef. "Ich finde, wir haben alles was wir brauchen, um auch dieser großen Zahl an Menschen eine neue Heimat, eine sichere Heimat geben zu können und übrigens ohne, dass jemand, der bereits in Deutschland lebt, darunter leiden müsste." Er schließt das Video mit den Worten: "Ich bin sicher: Wir schaffen das."

Merkel bleibt dabei

Lange hatte Gabriel demonstrativ den Kurs der Kanzlerin unterstützt. Im vergangenen Herbst saß er mit einem "Refugees Welcome"-Button der "Bild"-Zeitung auf der Kabinettsbank. Trotzdem ließ es sich der Instinktpolitiker nicht nehmen, Merkel immer wieder zu kritisieren. Bereits im Oktober vergangenen Jahres sprach er von den "Grenzen unserer Möglichkeiten" und schwenkte damit verbal in Richtung von CSU-Chef Seehofer, der dem "Wir schaffen das" der Kanzlerin stets die Forderung nach einer Obergrenze für Asylbewerber entgegenstellte.

Merkel wiederum blieb bei ihrem Satz - auch als die Umfragewerte für ihre Flüchtlingspolitik in den Keller rauschten. Er wurde zum Credo für ihre Flüchtlingspolitik. Sie wiederholte ihn etwa auf dem Parteitag in Karlsruhe, wo sie ihn in eine Reihe mit Konrad Adenauers "Wir wählen die Freiheit" und Helmut Kohls "blühenden Landschaften" stellte, und brachte so ihre parteiinternen Kritiker vorübergehend zum Verstummen.

Und sie wiederholte ihn nach den Anschlägen von Würzburg und Ansbach. "Ich bin heute wie damals davon überzeugt, dass wir es schaffen, unserer historischen Aufgabe - und dies ist eine historische Bewährungsaufgabe in Zeiten der Globalisierung - gerecht zu werden", so Merkel im Juli. "Wir schaffen das. Und wir haben im Übrigen in den letzten elf Monaten sehr, sehr viel bereits geschafft." Auch als die Kanzlerin sich in diesem Sommer erneut der Hauptstadtpresse stellte, wiederholte sie die drei Worte ganz selbstverständlich. Aus einer Ermutigung für die deutsche Gesellschaft wurde das prägende Mantra der Kanzlerin - mindestens für diese Legislaturperiode.