Interview

Steuerexperte zur kalten Progression Warum schafft sie keiner ab?

Stand: 08.12.2014 17:50 Uhr

Seit Jahren diskutiert die Politik darüber, die kalte Progression abzuschaffen. Aber keiner tut es. Warum eigentlich nicht? Was wäre so kompliziert? Wie es gehen könnte, erklärt Matthias Warneke vom Bund der Steuerzahler im Interview mit tagesschau.de.

tagesschau.de: Die Union diskutiert gerade - mal wieder - über die kalte Progression. Seit wann beschäftigt die Politik dieses Thema eigentlich schon?

Matthias Warneke: Die kalte Progression ist vielen Politikern schon in den 1960er-Jahren ein Dorn im Auge gewesen. Seither gab es immer mal wieder Mini-Schritte, die diese versteckte Steuererhöhung ein wenig ausgleichen sollten, aber nie eine durchgreifende Reform. Die Zeit ist jetzt mehr als reif, die kalte Progression abzuschaffen, denn die Belastungen für den Bürger steigen von Jahr zu Jahr treppenartig an. So kann es nicht weitergehen.

Zur Person

Matthias Warneke ist Diplom-Volkswirt und leitet seit 2012 das finanzwissenschaftliche Institut beim Bund der Steuerzahler. Zuvor kümmerte er sich beim BdSt vor allem um das Monitoring der Ausgabenpolitik des Bundes.

tagesschau.de: Wer ist von der kalten Progression am stärksten betroffen?

Warneke: Grundsätzlich sind alle Einkommenssteuerzahler betroffen. Aber die kleineren und mittleren Einkommen werden - relativ gesehen - besonders stark belastet, weil hier die Steigerungen in unserem progressiven Steuertarif am stärksten sind. Das führt dazu, dass jeder Einkommenszuwachs im Bereich bis 30.000 Euro Jahreseinkommen steuerlich besonders stark bestraft wird.

Ein Single, der 30.000 Euro zu versteuern hat, verliert in diesem Jahr rund 215 Euro durch die kalte Progression, das sind 3,5 Prozent. Jemand, der 100.000 Euro zu versteuern hat, wird mit 511 Euro zu viel belastet, das sind dann nur noch 1,4 Prozent seiner Steuerlast. Daran zeigt sich, wie ungerecht sich das für die kleineren Einkommen auswirkt.

Alle wollen sie abschaffen - keiner tut es

tagesschau.de: Dass das ungerecht ist, findet auch die Politik. Eigentlich wollen alle - quer durch die Parteien - die kalte Progression abschaffen. Warum tut es keiner?

Warneke: Das ist das Absurde: Wir haben eine breite Allianz aus allen politischen Lagern, die für die Abschaffung der kalten Progression ist: Von der CSU bis zur Linkspartei, vom Deutschen Gewerkschaftsbund bis zur Bundesvereinigung der Arbeitgeberverbände. Auch in der Wissenschaft besteht ein großer Konsens, dass die kalte Progression ungerecht ist. Aber die Politik ziert sich, weil sie die heimlichen Mehreinnahmen aus der kalten Progression gerne nimmt.

tagesschau.de: Es wird immer wieder vorgebracht, dass eine Abschaffung der kalten Progression sehr kompliziert sei. Stimmt das?

Warneke: Ja, es ist kompliziert, weil der Einkommenssteuertarif sehr komplex ist. Das ist eine nicht-lineare, quadratische Formel, das kann keiner mehr per Hand ausrechnen. Aber der Bund der Steuerzahler hat einen Gesetzentwurf mit einer neuen Tarifformel für 2015 vorgelegt, durch die die kalte Progression ausgeschaltet wird. Und wir schlagen darin auch einen Berechnungsmodus für die Folgejahre vor. Das sieht auf dem Papier kompliziert aus, aber es ist machbar. Alles was fehlt, ist der politische Wille.

Zudem wäre es der perfekte Zeitpunkt, die kalte Progression abzuschaffen, weil wir so niedrige Inflationsraten haben: Je höher die Inflationsrate, desto stärker fällt der Effekt der kalten Progression ins Gewicht. Derzeit wäre also die Belastung für den öffentlichen Haushalt überschaubar.

"Steuern um Inflationsrate senken"

tagesschau.de: Wie genau funktioniert das neue Modell, das der Bund der Steuerzahler vorschlägt?

Warneke: Unser Gesetzentwurf sieht vor, regelmäßig im Herbst die Inflation des Folgejahres zu prognostizieren: Auf dieser Basis würde dann der Einkommenssteuertarif neu berechnet. Dann hätte man zu Beginn jedes Jahres eine neue Tarifformel. Die Einkommensgrenzen, die ja für den Steuersatz maßgeblich sind, würden jeweils um die Inflationsrate angehoben. Wir würden in die Tarifformel also einen Dämpfungsmechanismus einbauen. Der Staat müsste im Gegenzug auf diese unberechtigten Inflationsgewinne verzichten.

tagesschau.de: Das Bundesfinanzministerium hält solchen Modellen entgegen, dass ein jährlicher Mechanismus die Inflation fördern und den Steuerapparat aufblähen würde.

Warneke: Das halten wir für vorgeschoben. Es ist ja ein Mechanismus, der lediglich zu einer gemäßigten Umverteilung von Kaufkraft führt: was der Staat weniger an Steuern einnimmt, haben die Bürger mehr in der Tasche. Mehr Inflation gäbe es also nicht. Es käme dadurch ja nicht mehr Geld ins System, es wäre nur in anderen Taschen.

Auch für den Steuerapparat wäre der Aufwand nicht sehr groß. Die neue Tarifformel müsste eben einmal jährlich berechnet und parlamentarisch beschlossen werden. Ähnliches geschieht auch jetzt schon bei der Anpassung der Beitragsbemessungsgrenzen in der Sozialversicherung.

"Bürger um acht Milliarden Euro entlastet"

tagesschau.de: Wie viel würde eine Abschaffung der kalten Progression dem Bürger bringen?

Warneke: Nach unserem Gesetzentwurf würden die Bürger im kommenden Jahr um rund acht Milliarden entlastet: Bei einem Single mit 25.000 Euro Jahreseinkommen, wären das 3,8 Prozent, also 161 Euro weniger.

tagesschau.de: Bei den Rekordeinnahmen, die der Staat derzeit aufgrund der guten Erwerbsquote hat, würde sich das - trotz niedriger Inflation - im Staatshaushalt also schon sehr stark bemerkbar machen.

Warneke: Unser Vorschlag würde ja nicht dazu führen, dass die Steuereinnahmen wegbrechen, sie würden nur moderat gedrosselt. Wenn alles so weiterliefe wie bisher, würden die Einkommensteuereinnahmen in den nächsten Jahren etwa um 5 Prozent wachsen. Mit unserem Gesetzentwurf würde das Wachstum immer noch 3,5 Prozent betragen. Wir finden, das wäre ein fairer Deal: Der Staat würde nicht generell um Zusatzeinnahmen gebracht, sondern nur um das, was ihm nicht zusteht.

Das Interview führte Sandra Stalinski, tagesschau.de

Kalte Progression

Die kalte Progression entsteht, wenn moderate Gehaltserhöhungen nur die Inflation ausgleichen, der Arbeitnehmer durch sie aber in einen höheren Einkommensteuertarif rutscht. So muss er mehr Steuern zahlen (Progressionseffekt). Weil die Inflation die Erhöhung einerseits auffrisst, und wegen der höheren Steuern andererseits sinkt seine Kaufkraft also.

Weil die Finanzbehörden von diesem Modell überproportional profitieren, sprechen Politiker, die die kalte Progression abschaffen wollen, auch von "heimlichen Steuererhöhungen". Bekämpft werden kann der Effekt, indem der Verlauf der Steuertarife geändert wird - auch "Steuerbremse" genannt.