Ein Fahrradfahrer passiert Wahlplakate von vielen verschiedenen Parteien.
Analyse

Landtagswahl Niedersachsen Wer wählte was warum?

Stand: 10.10.2022 06:59 Uhr

Kaum eine Landtagswahl war so von den Sorgen der Menschen geprägt, kaum ein Wahlkampf dermaßen bundespolitisch geführt. Welche Parteien profitierten davon? Und warum? Eine Analyse auf Basis der Daten von infratest dimap.

Eine Analyse von Dietmar Telser, tagesschau.de, zzt. in Hannover

Wer noch Belege für die Ängste der Menschen in diesen Zeiten sucht, der findet sie bei dieser Wahl zuhauf: 73 Prozent aller Befragten machen sich laut infratest-dimap-Daten große Sorgen, dass die Einkommen und der Wohlstand sinken. 67 Prozent aller Wahlberechtigten befürchten, dass der russische Präsident Wladimir Putin Atomwaffen einsetzt. 60 Prozent sorgen sich, dass sie ihre Rechnungen nicht mehr bezahlen können. Und dann bleiben noch die wachsenden Ängste wegen des Klimawandels (70 Prozent).

Bild: "Ich mache mir große Sorgen, dass …"

Energie und Preise

Es sind unruhige Zeiten und es sind Probleme, die kaum allein auf Landesebene gelöst werden können: Themen wie Energieversorgung (27 Prozent), Preissteigerungen (19) und Klima (17) spielten für die Wahlberechtigten in Niedersachsen die größte Rolle bei ihrer Wahlentscheidung - und dies auch relativ unabhängig von ihrer Parteipräferenz.

Der Blick geht bei den Umfragen von infratest dimap dementsprechend deutlich häufiger in Richtung Berlin als bei anderen Landtagswahlen - und zeigt, dass in der aktuellen Krisensituation das Vertrauen in die Politik im Bund vergleichsweise gering ist. Dafür, dass die Kanzlerpartei SPD trotzdem in Niedersachsen stärkste Kraft wurde und ihren Abstand zur CDU vergrößern konnte, gibt es mehrere Erklärungsansätze.

Bild: Ansichten über die Regierung und Olaf Scholz

Der amtierende Ministerpräsident Stephan Weil dürfte wohl der maßgeblichste Grund sein. 67 Prozent der Befragten bezeichnen ihn "als guten Ministerpräsidenten". Das sind keine absoluten Spitzenwerte, wie sie etwa Daniel Günther oder Winfried Kretschmann bei den Wahlen in Schleswig-Holstein und Baden-Württemberg erzielt haben, dennoch liegt Weil mit diesem Wert im guten Mittelfeld. Gleichzeitig ist der Abstand zu seinem Kontrahenten Bernd Althusmann etwa bei der Frage nach dem bevorzugten Kandidaten im theoretischen Falle einer Direktwahl sehr deutlich. 53 Prozent würden sich für Weil als Ministerpräsidentn entscheiden und nur 27 Prozent für Althusmann. Der Abstand hat sich im Vergleich zu 2017 sogar vergrößert (damals waren es 50 gegenüber 35 Prozent).

Und hier fällt auf: Selbst 65 Prozent der CDU-Wähler sind der Meinung, dass Weil ein guter Ministerpräsident ist. Auch 58 Prozent der FDP-Wähler stimmen dem zu.

Bild: Direktwahl Ministerpräsident im Vergleich

Dazu kommt, dass die Unzufriedenheit mit der Regierung zuletzt schnell gewachsen ist. Im Vergleich zur Gesamtstimmung in Deutschland fällt sie in Niedersachsen dennoch etwas weniger dramatisch aus. In Niedersachsen gaben 54 Prozent der Befragten an, dass sie nicht zufrieden mit der Bundesregierung sind.

Eine knappe Mehrheit zeigte sich dafür noch mit der Arbeit der Landesregierung zufrieden - bei Anhängern der Sozialdemokraten lag dieser Wert wesentlich höher als bei CDU-Wählenden.

Die SPD muss aber trotz des Wahlsiegs Verluste verzeichnen. Besonders unter Jüngeren und bei Arbeiterinnen und Arbeitern tut sie sich schwer. So sanken die Stimmanteile bei den 18-bis 24-Jährigen um zwölf Prozentpunkte. Bei Arbeitern um 13 Prozentpunkte.

Bild: SPD-Stimmanteile in Altersgruppen

Weils Vorsprung

Weshalb Weil am Ende doch relativ deutlich vor Althusmann liegt, dürfte auch an den Kompetenzwerten liegen. Der CDU werden in den meisten Bereichen deutlich seltener die besten Lösungen zugetraut als bei der vergangenen Wahl: Bei der Kriminalitätsbekämpfung sank der Wert um zwölf Prozentpunkte, bei der Sicherung und Schaffung von Arbeitsplätzen um elf und bei der Wirtschaftskompetenz um neun Punkte.

Von der Unzufriedenheit mit der Bundesregierung kann die CDU auf Landesebene offenbar kaum profitieren. Ohnehin scheint CDU-Chef Friedrich Merz auch bei Wählerinnen und Wählern der CDU in Niedersachsen zu polarisieren. Nur 56 Prozent sind der Meinung, dass Merz die Partei wieder in die Bundesregierung führen kann.

Bild: Kompetenzen der CDU

Die vorläufige Wählerwanderung verdeutlicht auch, dass die Partei ein Mobilisierungsproblem hat. Zehntausende der früheren CDU-Wähler gingen gar nicht mehr zur Wahl. Die Partei gab zudem Stimmen an viele andere Parteien ab. Am stärksten verlor sie dabei Wähler an die AfD.

Die AfD bestätigt auch damit, dass sie mit ihrer Politik weiterhin unter Unzufriedenen und Verunsicherten besonders erfolgreich mobilisieren kann. Und die gibt es bekanntlich reichlich. Der Anteil der Menschen, die sich große Sorgen um Einkommen, steigende Preise und Migration machen, ist unter den AfD-Wählerinnen und -Wählern besonders hoch. Zudem geben 83 Prozent der Befragten an, dass sie mit dem Funktionieren der Demokratie in Deutschland nicht zufrieden sind. Zum Vergleich: Bei den Grünen sind es gerade 13 Prozent.

Bild: AfD-Wählende: "Mache mir große Sorgen, dass …"

Kompetenzen der AfD

Die infratest-Daten zeigen aber auch, dass der AfD von Wählerinnen und Wählern verstärkt Lösungkompetenzen zugeschrieben werden und sie nicht allein aus Gründen des Protests gewählt wird. Bei den Feldern Soziale Gerechtigkeit (plus sechs Punkte), Arbeitsplätze und Wirtschaft (jeweils plus vier) und bei der Kriminalitätsbekämpfung (plus fünf Prozentpunkte) kann die Partei ihre Kompetenzzuschreibungen jeweils deutlich steigern.

Die AfD schafft es offenbar, auch die jüngere Generation anzusprechen. Bei den Erstwählerinnen und Erstwählern liegt die Partei laut vorläufigen Zahlen bei elf Prozent und damit noch vor der FDP, die etwa bei vergangenen Wahlen viele junge Menschen ansprach. Am stärksten waren in dieser Altersgruppe in Niedersachsen allerdings die SPD und die Grünen nach vorläufigen Zahlen. Die Verteilung der Altersgruppen macht zudem deutlich, dass die Partei bei allen Altersgruppen Zuspruch gewann.

Die meisten Stimmengewinne verdankte die AfD laut vorläufiger Wählerwanderung früheren Wählerinnen und Wählern von CDU, aber auch von FDP und SPD. Allerdings konnte sie auch in großem Maß bisherige Nichtwähler mobilisieren.

Anders die Situation bei den Grünen: Der Partei werden bei dem Thema Klima erwartungsgemäß die größten Kompetenzen zugeschrieben. Dennoch verlieren sie in diesem Bereich 18 Prozentpunkte im Vergleich zum Jahr 2017. Die Hälfte aller Wahlberechtigten sieht die Grünen als jene Partei, die Werte vertritt, die ihnen persönlich wichtig sind. Fast die Hälfte wünscht sich eine Regierungsbeteiligung der Grünen und annähernd ebenso viele sagen, die Partei stehe für Aufbruch und Erneuerung.

Dieses Image - verbunden mit der Tatsache, dass eine rot-grüne Koalition die höchsten Zustimmungswerte aller abgefragten Bündnisvarianten erreicht - trug zum Rekordergebnis der Partei in Niedersachsen bei. Die Partei holte sich dabei den größten Anteil der Stimmengewinne von der CDU und der SPD. Die Grünen gewannen auch deutlich in allen Altersgruppen hinzu. Bei Rentnern, Arbeitern und Wähler mit niedriger Bildung konnten die Grünen allerdings weniger punkten, in Großstädten können sie die größten Zuwächse erzielen.

Die Kandidatin spielte für die Wahlentscheidung offenbar nur eine geringe Rolle. Nur elf Prozent der Wählenden gaben an, dass sie sich wegen Julia Willie Hamburg für die Grünen entschieden haben, 71 Prozent begründeten die Entscheidung mit dem Programm.

Bild: Kandidatenfaktor Stefan Birkner

Die FDP und die Wirtschaft

Die FDP hat hingegen ausgerechnet bei den Wirtschaftskompetenzwerten deutlich eingebüßt (minus drei Prozentpunkte). Auffallend bei der FDP: 32 Prozent der befragten FDP-Anhänger sind der Meinung, dass die FDP zu wenig für die Wirtschaft in der Krise unternimmt. 59 Prozent sind der Meinung, dass die Bundesregierung bei Entlastungen zu wenig an die Wirtschaft denkt.

Beim Kandidatenfaktor verschlechterte Spitzenkandidat Stefan Birkner sein Ergebnis von 2017 noch einmal. Seit 2013 sank dieser Wert von 26 Prozent auf inzwischen 14 Prozent. Die Konsequenz: Die Partei verliert Stimmen, die meisten davon an die AfD und die CDU. Ein Teil der früheren FDP-Anhänger gingen aber diesmal einfach nicht mehr zur Wahl.

Bild: Stimmanteile unter Erstwählenden

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete die ARD in der Sendung "Landtagswahl in Niedersachsen" am 09. Oktober 2022 um 17:45 Uhr.