Offene Schublade eines Apothekerschranks
FAQ

Arzneimittel-Engpässe Rezept gegen Mangel - mit Nebenwirkungen?

Stand: 21.12.2022 13:48 Uhr

Gesundheitsminister Lauterbach will die "Discounter-Politik" bei Medikamenten beenden und hat konkrete Maßnahmen gegen die Lieferengpässe vorgestellt. Wie sehen sie aus - und wie schnell wirken sie?

Die Ausgangslage

Medikamentenmangel im reichen Industrieland Deutschland? Vor allem Familien macht es zu schaffen, dass manche Arzneimittel für ihre Kinder gerade in der Apotheke nicht zu haben sind. Die Gründe für die Lieferengpässe sind vielfältig, und einige sind auch hausgemacht. "Wir haben es mit der Ökonomisierung auch in der Versorgung mit patentfreien Medikamenten übertrieben", konstatierte Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach. Er sprach von "Discounter-Politik". Um gegenzusteuern, sehen Eckpunkte für ein Gesetz unter anderem neue Preisregeln vor. Die Herstellung von Medikamenten soll sich wieder lohnen.

Was fehlt?

Von derzeit etwa 300 gemeldeten Lieferengpässen bewertet das Bundesamt für Arzneimittel und Medizinprodukte (Bfarm) 51 Arzneimittel mit 17 Wirkstoffen als kritisch. Dabei stehen patentfreie Arzneimittel im Vordergrund. Besondere Schwierigkeiten gibt es bei der Therapie onkologischer Erkrankungen (Tamoxifen, Folinate) und bei Fiebersäften für Kinder (Paracetamol und Ibuprofen). 

Wie werden Arzneimittel vergütet?

Die Festbeträge sind Höchstbeträge für die Erstattung von Arzneimitteln durch die Krankenkassen. Ist der Preis höher, muss der Patient die Differenz zahlen - zusätzlich zur normalen Zuzahlung von in der Regel fünf bis zehn Euro. Ist der Preis 30 Prozent niedriger, entfällt die Arzneimittelzuzahlung in der Apotheke. Bei Rabattverträgen schließen die Krankenkassen mit dem günstigsten Generika-Anbieter spezielle Verträge ab. Apotheker dürfen nur dieses Arzneimittel an die Versicherten abgeben. Für Apotheken gilt aktuell noch eine Corona-Ausnahmeregelung: Bei nicht verfügbaren Arzneimitteln können die Apotheken dadurch das Medikament austauschen.

Was ist aktuell das Problem?

Der Preiswettbewerb auf dem Generika-Markt zwingt einige Arzneimittelhersteller zum Rückzug, insbesondere bei Wirkstoffen, die höhere Aufwendungen in der Produktion erfordern (Infusionen, Säfte, Zäpfchen, Krebsarzneimittel). Der Konzentrationsprozess auf wenige Hersteller und Zulieferer in Drittstaaten wird dadurch noch befeuert. Somit drohen strategische Abhängigkeiten von Drittstaaten in der Arzneimittelversorgung bei wichtigen Wirkstoffgruppen, etwa bei Antibiotika. Fehlende Diversität führt zu Lieferengpässen, wenn ein Hersteller oder Zulieferer ausfällt.

Was plant Minister Lauterbach?

Für Kinderarzneimittel werden die Preisregeln gelockert: Festbeträge und Rabattverträge werden abgeschafft. Für bestimmte Arzneimittel soll künftig das bis zu 1,5-Fache des Festbetrags von den gesetzlichen Kassen übernommen werden - also des maximalen Betrags, den sie bisher für ein Präparat an den Hersteller zahlen. Lauterbach sagte in der ARD, die Kassen würden unmittelbar angewiesen, diese 50 Prozent mehr zu zahlen. Damit gibt es für gesetzlich versicherte Patienten mehr Alternativen. Nach Eckpunkten des Ministeriums sollen Experten beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte eine Liste mit Präparaten erstellen, die für die Kinderversorgung erforderlich sind. Um Kostendruck zu senken, soll es für sie auch keine Rabattverträge mehr geben dürfen.

Um Lücken in den Lieferketten künftig zu vermeiden, soll die Versorgung besser abgesichert werden, auch gegen Probleme bei Lieferungen aus Asien und Abhängigkeiten von einzelnen Anbietern. Den Kassen soll zunächst für Krebsmedikamente und Antibiotika eine Standortberücksichtigung bei Ausschreibungen vorgegeben werden. In einem zusätzlichen Teil ergänzend zur Vergabe nach dem Preis sollen sie einen Zuschlag nach dem Kriterium "Anteil der Wirkstoffproduktion in der EU" erteilen. Das solle dafür sorgen, dass zuverlässigere europäische Hersteller bevorzugt werden, erläuterte Lauterbach. Verbindliche, mehrmonatige Lagerhaltung von rabattierten Arzneimitteln wird für Kassenverträge mit den Herstellern vorgeschrieben. 

Im Blick stehen auch Apotheken, die sich bei gerade nicht lieferbaren Mitteln um Alternativen für die Kundinnen und Kunden kümmern. "Ist ein Medikament nicht vorrätig, dürfen sie künftig ein wirkstoffgleiches Arzneimittel abgeben oder aus Pillen Säfte machen", erläuterte Lauterbach. "Müssen sie dafür mit dem Arzt Rücksprache halten, wird das zusätzlich honoriert." Laut den Eckpunkten ist eine Pauschale von 50 Cent vorgesehen. Die Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände nannte den Betrag "eine Frechheit". Damit werde teils stundenlanger Arbeitsaufwand nicht ansatzweise bezuschusst.

Was Gesundheitsminister Lauterbach gegen Arzneimittelengpässe plant

Nicole Kohnert/Eckhardt Wolf, ARD Berlin, tagesthemen, tagesthemen, 20.12.2022 22:10 Uhr

Ist der Mangel damit schnell behoben?

Das ist fraglich. Der Minister verbreitet Optimismus. Er rechne damit, dass die von ihm angestoßenen Maßnahmen zur besseren Arzneimittelversorgung für Kinder "sehr schnell wirken", sagte Lauterbach am Dienstag. Hausärzte und Apotheken sehen in den Plänen dagegen nur ein Erste-Hilfe-Pflaster. "Die jetzt diskutierten Maßnahmen werden in der hausärztlichen Versorgung kurzfristig nur bedingt helfen", sagte die Vize-Chefin des Deutschen Hausärzteverbandes, Nicola Buhlinger-Göpfarth, der "Rheinischen Post". Die Lieferengpässe seien in den Hausarztpraxen sehr deutlich zu spüren.

Auch der Apothekerverband Nordrhein erwartet lang anhaltende Lieferschwierigkeiten bei Medikamenten. "Wir gehen davon aus, dass die Lieferprobleme auch 2023 anhalten und noch weitere Arzneimittel betroffen sein werden", sagte Verbandschef Thomas Preis. Die Pläne von Lauterbach seien nur "ein Tropfen auf den heißen Stein", da sie das strukturelle Problem nicht beseitigten. "Der Staat muss wie beim Corona-Impfstoff den Herstellern Abnahmegarantien für Basismedikamente geben", forderte er. 

Der Sprecher der gesetzlichen Krankenkassen, Florian Lanz, bekräftigte seine Zweifel an der Wirksamkeit von Lauterbachs Maßnahmen. "Ich halte es für extrem unwahrscheinlich, dass wir dadurch auch nur einen Hustensaft schneller in die Apotheke bekommen", sagte Lanz im Bayerischen Rundfunk.

Krankenkassen reagierten besonders kritisch - warum?

Weil sie die zusätzlichen Kosten für die höheren Medikamentenpreise selbst tragen sollen. GKV-Vorstandschefin Doris Pfeiffer sprach von einem "beeindruckenden Weihnachtsgeschenk für die Pharmaunternehmen". Sie gab der Pharmaindustrie eine Mitschuld an der Situation. "Die Einhaltung von Lieferverträgen und die zuverlässige Versorgung mit zugesagten Produkten sollte gerade in einem so sensiblen Feld wie der Arzneimittelversorgung selbstverständlich sein", erklärte Pfeifer. "Leider hat die Pharmaindustrie in vielen Fällen nicht so gehandelt." Lieferausfälle bis hin zu Versorgungsproblemen seien die Folge gewesen.

Zu höheren Beiträgen zur Krankenversicherung führen Lauterbachs Pläne zunächst aber nicht. Zwar kommen auf die Versicherten der gesetzlichen Krankenkassen 2023 höhere Zusatzbeiträge zu - sie fallen aber wohl weniger hoch aus als erwartet. Bisher sei davon auszugehen, dass der Zusatzbeitrag um 0,2 Prozentpunkte auf insgesamt 1,5 steige, sagte Pfeiffer den Zeitungen der Funke Mediengruppe. Damit seien die Krankenkassen unter dem vom Bundesgesundheitsministerium angekündigten Anstieg von 0,3 Prozentpunkten geblieben. Bei der Gesetzlichen Krankenversicherung wird im kommenden Jahr ein Rekorddefizit von 17 Milliarden Euro erwartet.

Was sagt die Pharmabranche?

Aus Sicht der Pharmabranche hat das Ministerium endlich erkannt, dass das "Hauptsache-Billig-Prinzip" die Versorgung destabilisiere. Das gehe an die Wurzel des Problems, erklärte der Verband Pro Generika.

Wie geht es weiter?

Umgesetzt werden sollen die Gesetzespläne im neuen Jahr. Bis dahin wird weiter Redebedarf bestehen, eventuell gibt es auch noch einen "Medikamentengipfel" mit allen Interessenvertretern an einem Tisch. Grundsätzliche Unterstützung aus der Politik bekommt Lauterbach aber für seine Pläne.

An der angespannten Situation in vielen Familien mit kranken Kindern, in überfüllten Arztpraxen und Kliniken ändern die Pläne des Ministers erstmal nichts - gerade jetzt vor Weihnachten und dem Jahreswechsel. Der Deutsche Städtetag appellierte daher an die niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte, ihre Praxen länger geöffnet zu halten. "Bitte prüfen Sie, Ihre Praxen auch noch nach 18.00 Uhr, am Samstag und Sonntag und an den Feiertagen offen zu halten", sagte Hauptgeschäftsführer Helmut Dedy den Zeitungen der Funke Mediengruppe.

Bei einfachen Erkrankungen sollten Patientinnen und Patienten die Nummer der ambulanten Notfallversorgung der niedergelassenen Ärzte, 116 117, wählen und nicht die Nummer 112 des örtlichen Rettungsdienstes. Diese sei nur für echte Notfälle gedacht. Derzeit sorgen neben Corona auch andere Atemwegserkrankungen wie bei Kindern die RS-Viren für viele schwere Infekte und überlastete Kliniken. Auch viele Klinikmitarbeitende sind selbst erkrankt.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete Deutschlandfunk am 21. Dezember 2022 um 13:00 Uhr in den Nachrichten.