Michael Kretschmer (CDU), Ministerpräsident von Sachsen, am 18. April in der Staatskanzlei in Dresden.
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Vor Landtagswahl in Sachsen Kretschmers Gratwanderung

Stand: 07.07.2023 13:05 Uhr

Michael Kretschmer ist viel unterwegs in Sachsen. Auch politisch fährt der CDU-Politiker oft einen Zickzackkurs. Populismus werfen ihm seine Kritiker vor. Doch so einfach ist das nicht. Über einen, der keine Scheu vor AfD-Themen hat.

Von Uta Deckow, MDR

Die CDU Sachsen hat zum Sommerfest geladen. Die Ferien rücken näher, bald ist Parlamentspause. Wohin er denn in Urlaub fahre, wird Michael Kretschmer gefragt. Nach Waltersdorf, antwortet der Regierungschef. Dort, in seinem Görlitzer Wahlkreis steht sein Umgebindehaus, ein regional typisches Fachwerkhaus, das er an Wochenenden gelegentlich nutzt. Die Kinder habe er zu zwei Tagen Wandern im Riesengebirge überreden können. Und dann werde er viel, viel im Land unterwegs sein und mit den Menschen reden.

Omnipräsent im Land

Er ist wieder da. Michael Kretschmer tourt wie vor Corona durchs Land und von Termin zu Termin. "Ich kann ja nicht alle vier Millionen Sachsen persönlich treffen, das schafft nur der Ministerpräsident", scherzte unlängst Innenminister und Parteikollege Armin Schuster vor Bürgermeistern. Selbst Kretschmer wird das wahrscheinlich nicht schaffen, aber er scheint hart daran zu arbeiten. Zu der Omnipräsenz im Land gesellt sich eine mediale. Kretschmer ist nicht nur Ministerpräsident sondern auch CDU-Bundesvize, und zwar einer, der gerne aus der Reihe tanzt.

Wochenende um Wochenende macht Kretschmer Schlagzeilen in überregionalen Medien. Er fordert die Kürzung von Asylbewerber-Leistungen, gar eine Grundgesetzänderung, will die zerstörte Gaspipeline Nordstream 1 reparieren, mehr Diplomatie mit Russland. Nach den jüngsten AfD-Erfolgen auf Kommunalebene warnt er: "In diesem Land gerät etwas ins Rutschen." Dann wieder erklärt Kretschmer die Energiewende für gescheitert.

Genervte Koalitionspartner

Das ärgert die Fraktionschefin der Grünen im Landtag. "Langsam ist das ausgelutscht. Diese permanente Panikmache, das Schüren von Ängsten und sich wiederholende Falschbehauptungen gehen mir mächtig auf den Zeiger. Energiewende ist nicht gescheitert", schrieb Franziska Schubert auf Twitter, ohne Kretschmers Namen zu erwähnen. Der andere Koalitionspartner SPD wirft Kretschmer Selbstprofilierung zu Lasten des Landes vor. Für einen Wahlkampf mehr als ein Jahr vor der Landtagswahl sei es zu früh, mahnen die Sozialdemokraten.

Und doch stecken alle schon mittendrin. Allen voran CDU-Chef und Ministerpräsident Kretschmer. Überzeugung? Taktik? Strategie? Viel wird im politischen Dresden darüber diskutiert, was Kretschmer treibt, wohin ihn dieser Weg bis zum Wahltag am 1. September 2024 noch führen soll und vor allem, ob sein Kalkül am Ende aufgehen wird.

Populismus oder Überzeugung?

"Dem Volk aufs Maul zu schauen, ist Demokratie. Dem Volk nach dem Mund zu reden, ist Populismus", das war die Definition von CDU-Chef Friedrich Merz auf dem jüngsten Grundsatzkonvent der Partei Ende Juni.

Ist es Populismus, wenn Kretschmer Verhandlungen mit Russland fordert, weil er weiß, dass viele seiner Wähler und potenziellen Wähler in Sachsen so denken - oder ist es Überzeugung? Tut er schlicht das, was eine Volkspartei tun muss - zuhören, Emotionen bündeln und in die politische Mitte heben, so wie Parteichef Merz das formuliert hat? Oder spielt er der AfD in die Hände, weil er ihren Sound bedient, wie Kritiker ihm vorwerfen.

Sachsen ist nicht NRW

Inzwischen habe er seine Meinung über Kretschmer revidiert, sagt ein CDU-Mann, der noch nicht lange in Sachsen lebt. "Ich glaube, Kretschmer muss so agieren, wie er es tut. Sachsen ist anders als Nordrhein-Westfalen oder Schleswig-Holstein", meint er mit Blick auf die beiden Ministerpräsidenten Hendrik Wüst und Daniel Günther. Beide regieren in ihren Bundesländern geräuschlos mit den Grünen. Wüst sieht die CDU als Stabilitätsanker in der gesellschaftlichen Mitte, die breite Gruppen auch aus liberalen, sozial eingestellten und ökologisch orientierten Wählermilieus anspricht.

Die Mitte in Sachsen sieht anders aus als in NRW oder Schleswig-Holstein - darauf setzen diejenigen, die auf Kretschmers Kurs vertrauen. "Ich glaube schon, dass wir mit Michael Kretschmer jemanden haben, der einigermaßen Gewähr dafür bietet, dass die AfD in Schranken gehalten wird", sagt der CDU-Landtagsabgeordnete und ehemalige Justizminister Geert Mackenroth.

Auch Kretschmer regiert mit den Grünen, plus der SPD. Aber ob beim Sommerfest oder bei der Regionalkonferenz, er macht keinen Hehl draus, dass er auf die Grünen in der Regierung gern verzichten würde. Applaus von der Basis ist ihm dafür in Sachsen sicher.

AfD-Themen in anderer Sprache

Die Ampelkoalition in Berlin macht er für die AfD-Wahlerfolge verantwortlich, der Staat dürfe nicht mit Verboten kommen, nicht belehren und vorschreiben. Innovation entstehe aus Technologie-Offenheit, nur so könne die Wirtschaft vorankommen. Ökologie, Ökonomie und Soziales müssten in Einklang gebracht werden. Dafür habe die Union und er selbst immer Angebote der Zusammenarbeit gemacht. Er fordert eine Kommission für die Asylfrage, eine für die Energiefrage, es brauche den gesellschaftlichen Konsens.

Wenn Kretschmer auf den Regionalkonferenzen redet, dann bespielt er zwar Themen, die die AfD auch anspricht, aber nutzt eine völlig andere Sprache. Eine, die sich auch von der des Bundesvorsitzenden Merz unterscheidet.

Da wirbt Kretschmer auch für Lösungen und sagt, dass Kompromisse etwas Gutes seien für die Gesellschaft. "Anständig im Ton, hart in der Sache", so müsse man miteinander umgehen, sagt er stets und meint den Unterschied zu den anderen.

Klare Abgrenzung zur AfD

Je nach Umfrage liegt die AfD in Sachsen vorn oder wie jüngst bei der "Sächsischen Zeitung" knapp hinter der Union in Sachsen. Kretschmer macht mantraartig deutlich: Mit ihm stehe die Brandmauer. Nie werde er mit der AfD zusammenarbeiten, die sich immer weiter radikalisiere. "Gehen Sie in den sächsischen Landtag, hören Sie deren Reden und dann wissen Sie, warum diese Menschen niemals in Sachsen Verantwortung haben dürfen." Das sagt er immer wieder.

Nichtsdestotrotz spinnt die AfD in Sachsen ihre Erzählung. AfD wirke, Kretschmer blinke rechts und biege dann links ab. Die Brandmauer werde von unten bröckeln, hofft AfD-Chef Jörg Urban. Er setzt auf die Kommunalwahlen in Sachsen, die am 9. Juni zeitgleich mit der Europawahl stattfinden.

"Diese Wahl muss ein sichtbares Zeichen dafür werden, dass das Land stabil ist", beschwört Kretschmer seine Parteifreunde schon jetzt auf dem Sommerfest. Demokraten müssten in die Parlamente gelangen, dafür müsse die Union sorgen und dafür auch hinnehmen, wenn manche von ihnen kein Parteibuch hätten. Die Strategie: lokal bekannte Personen gewinnen für die CDU-Listen. Gegen sie dürfte ein Protestwahlkampf, wie ihn die AfD in Sonneberg führte, kaum gelingen.

Was hilft gegen die AfD?

Was treibt Menschen zur AfD? Was beschert dieser Partei gerade im Osten Deutschlands diese Erfolge? Längst gibt es zahlreiche Erklärungsversuche, politische Analysen. Auf die Frage, wie man den Aufwärtstrend beendet, gibt es jedoch keine überzeugende Antwort und schon gar keine, die sich bewährt hätte. In Brandenburg, in Thüringen wächst die blaue AfD-Säule in den Umfragen.

In Sachsen gelingt es der CDU offenbar bislang, die AfD noch einzuhegen. Wegen Kretschmers Kurs? In der sächsischen CDU scheint dies die einzige Hoffnung zu sein. Diese Frage stellen sich inzwischen aber auch immer mehr seiner Kritiker. Aber auch diese: Was es etwa für SPD und Grüne bedeuten würde, wenn Kretschmer am Ende des Wahlkampfs so wie schon 2019 wieder auf Stimmenfang bei ihnen ginge - nach dem Motto: "Wählt die CDU" oder die AfD liegt vorn.

Noch ist es ein langer Weg, bis die Wählerinnen und Wähler in Sachsen die Antwort geben. Dieser Wahlkampf wird ein "Höllenritt", zumindest darin sind sich wohl alle einig.