Annalena Baerbock
Analyse

Erstes Jahr als Außenministerin Wie Baerbock einen neuen Ton setzt

Stand: 11.12.2022 09:56 Uhr

Baerbocks erstes Jahr als Außenministerin war vom russischen Krieg auf die Ukraine und den Folgen geprägt. Dabei versteckt sie sich nicht hinter diplomatischen Floskeln.

Eine Analyse von Christian Feld, ARD Berlin

Die erste Reise sollte ein Vorgeschmack werden, was Annalena Baerbock erwartet. 33 Jahre Lebensalter liegen zwischen ihr und Jean-Yves Le Drian. Als die beiden im Dezember 2021 in Paris nebeneinander stehen, ist dem französischen Außenminister eine gewisse Zurückhaltung anzusehen. Zwei Tage später hält Baerbocks polnischer Amtskollege - ebenfalls ein älterer Herr - ihr bei der gemeinsamen Pressekonferenz in Warschau einen längeren Vortrag, den man diplomatisch formuliert als altväterlich belehrend bezeichnen könnte. Es sind die ersten Schritte auf dem diplomatischen Parkett.

Ein knappes Jahr später: Routiniert gibt Baerbock die Gastgeberin beim G7-Treffen im Friedenssaal von Münster. Die Grünen-Politikerin scheint längst in ihrer Rolle angekommen. Es war ein Schnellstart in ein Amt, das früh vom russischen Krieg gegen die Ukraine und der "Zeitenwende" geprägt ist.

Der Friedenssaal in Münster während eines G7-Gipfels

Gastgeberin im Friedenssaal: Baerbock mit ihren Amtskollegen der G7-Staaten

Sichtbar und beliebt

Baerbock ist die erste Frau an der Spitze des Auswärtigen Amtes. Sie hat das erste Jahr genutzt, um Sichtbarkeit zu gewinnen, einen eigenen Ton zu setzen, sich international Respekt zu verschaffen. Gleichzeitig musste die Grünen-Politikerin aber auch früh eine 180-Grad-Wende mitgehen und grundlegende Positionen räumen. Die ersten Monate brachten auch die Erkenntnis, dass sich die Vorsätze einer wertegeleiteten Außenpolitik in der harten Realität erst noch beweisen müssen.

Es gibt einiges, das sich Baerbock auf die Habenseite schreiben kann: Die 41-Jährige gehört aus Sicht des "Time Magazine" zu den "100 aufsteigenden Stars". Im ARD-Deutschlandtrend ist sie seit Monaten das Kabinettsmitglied, mit dem die Befragten am zufriedensten sind. Im Juli hatte sie dort Robert Habeck von Platz 1 verdrängt. Nun ist Beliebtheit eine häufige Begleiterscheinung deutscher Außenminister, dennoch schien diese Entwicklung bei Baerbock keine Selbstverständlichkeit. Schließlich hatte sie - auch aufgrund eigener Fehler - eine verkorkste Spitzenkandidatur bei der Bundestagswahl hinter sich.

Uneingeschränkt ist die Zustimmung nicht. Zum Gesamtbild gehört: Die Grünen-Politikerin löst nach wie vor - besonders in sozialen Netzwerken - heftige Ablehnung und wüste Beleidigungen aus.

Nicht hinter Diplomatie verschanzen

Jetzt also deutsche Chefdiplomatin. Und Baerbock macht keinen Hehl daraus, dass sie vor dem Amt nicht in Ehrfurcht erstarren, sondern es nach ihren Vorstellungen prägen will. Sie holte die Verantwortung für die internationale Klimadiplomatie ins eigene Ministerium. Und so steht Baerbock bei der Weltklimakonferenz in den entscheidenden Stunden in der allerersten Reihe und nicht wie bisher die Umweltministerin.

Zu den eigenen Akzenten gehört auch ihre öffentliche Sprache, das Bemühen, sich nicht zu sehr hinter diplomatischen Formulierungen zu verschanzen. Beim Antrittsbesuch in Moskau spricht sie - noch vor Kriegsbeginn - in der Pressekonferenz mit Außenminister Sergej Lawrow den russischen Truppenaufmarsch an: "Es fällt schwer, das nicht als Drohung zu verstehen." Im Kiewer Vorort Butscha sagt sie: "Diese Opfer könnten wir sein."

Klarer als der Kanzler

Doch es gibt auch Situationen, in denen Baerbocks Worte Irritationen auslösen. Das Werben für eine Lösung des Kaschmir-Konflikts "mithilfe der Vereinten Nationen" sorgte für kurzzeitige Verstimmung in Indien. Dass sie im Zusammenhang mit russischen Gaslieferungen von "Volksaufständen" in Deutschland gesprochen hatte, nennt sie später "vielleicht etwas überspitzt". Dennoch klingt Baerbock in vielen dieser Kriegsmonate in ihren Aussagen häufig klarer als der Kanzler. Ob das Lob der Union dafür nicht in erster Linie als Kritik an Olaf Scholz zu sehen ist, sei dahin gestellt.

Ob bei einem Landwirtschaftsprojekt in Niger, am Grenzübergang zwischen der Ukraine und der Republik Moldau oder jetzt in Indien: Wenn Baerbock auf Reisen geht, legt sie Wert darauf, nicht nur Ministerien und Residenzen zu besuchen. Es gehört zu den Grundpfeilern ihrer Arbeit, auch den Stimmen jenseits der offiziellen Politik Gehör und Sichtbarkeit zu verschaffen, vor allem Frauen und Kindern. So spricht sie beispielsweise vor der UN-Vollversammlung vom kleinen Mädchen Mia, das in Kiew in einer U-Bahn-Station zur Welt kam. Die Eltern hatten Schutz vor den Bomben gesucht.

Was bedeutet feministische Außenpolitik?

Allerdings: Wer immer wieder die Bedeutung einer feministischen Außenpolitik betont, muss sich an den selbst gesetzten Ansprüchen messen lassen. Entsprechend deutlich fiel die Kritik an Baerbock aus, nachdem im Iran Mahsa Amini nach ihrer Verhaftung gestorben war und Frauen im Protest auf die Straße gingen. Aus Sicht vieler Kritiker hat es zu lange gedauert, bis sich Baerbock mit einer scharfen Verurteilung zu Wort meldete.

Eine wertebasierte Außenpolitik hatte sich die Ampel im Koalitionsvertrag vorgenommen. Doch innerhalb der Regierung gibt es unterschiedliche Lesarten, was das in der Praxis bedeutet. Beispiel China: Baerbock hatte kurz vor Amtsübernahme von einem "Zusammenspiel von Dialog und Härte" gesprochen. Als der Kanzler kürzlich den Einstieg der chinesischen Staatsreederei Cosco bei einem Hamburger Hafenterminal durchsetzte, gab die Außenministerin ihre Ablehnung zu Protokoll. Es folgten kritische Bemerkungen zum Zeitpunkt der Kanzler-Reise nach Peking.

Am Ende sieht sich das Scholz-Lager bestätigt, da China nach der Reise eine Verurteilung von Russland auf dem G20-Gipfel mittrug. Baerbocks Haus erarbeitet aktuell federführend eine China-Strategie. Die weitere Diskussion in der Bundesregierung darüber dürfte ein Prüfstein werden, wie angespannt das Verhältnis zwischen Außenministerin und Kanzler ist.

Zwölf Monate ist Baerbock nun im Amt, für eine Bewertung ist es zu früh. Dafür sind noch zu viele Fragen offen. Wird Baerbocks an manchen Stellen wenig diplomatische Art eine langfristige Wirkung erzielen? Oder ist sie kontraproduktiv? Sie selbst spricht von einem "größtenteils furchtbaren Jahr". Und wenig deutet darauf hin, dass 2023 diplomatisch ruhiger wird.