Lindner, Habeck und Scholz
Analyse

Ampel-Debatte um Entlastungen In den Mühen der Ebene

Stand: 21.06.2022 19:27 Uhr

Die Ampel-Koalition streitet über zusätzliche Entlastungen und die Finanzierung ihrer Politik. Aber im Hintergrund geht es auch darum, wer bei den Finanzen das letzte Wort hat.

Eine Analyse von Corinna Emundts

Man könnte meinen, die Ampel stünde in diesen Tagen kurz vor dem Koalitionsbruch. Sie streitet über Finanzierungsfragen angesichts der stark steigenden Energie- und Lebenshaltungskosten infolge des Ukraine-Krieges und der damit verbundenen Energiekrise. Aber durchaus auch darum, wer hierzu im Kabinett das Sagen hat. Olaf Scholz oder Christian Lindner? Lindner oder doch Robert Habeck?

"Lieber neue Wahlen als neue Schulden", unkte Finanzminister Lindner kürzlich. Übersetzt bedeutet dies von Seiten des FDP-Chefs nichts anderes in Richtung Ampel-Koalitionspartner als: Freunde, wenn ihr die Schuldenbremse erneut aussetzen wollt, war es das mit unserem Projekt.

Das neue Zauberwort: Priorisieren

Von rot-grüner Seite ist jedoch trotzdem eher eine Relativierung der Schuldenbremse für 2023 zu vernehmen; SPD-Chefin Saskia Esken und Grünen-Vorsitzende Ricarda Lang stellten sie am Wochenende erneut in Frage. Es müsse angesichts der steigenden Kosten weitere Entlastungen der Bürgerinnen und Bürger geben. Die Rollen sind also verteilt - am Mittwochabend kommen alle zum Koalitionsausschuss zusammen. Das Thema ist damit klar.

"Es läuft doch gerade ein blödsinniges Spiel", sagt ein langjähriger Parlamentarier aus einer der Ampelfraktionen: "Jede Partei erklärt, was sie gerne hätte und schaut, ob die andere zuckt". Hört man tiefer in den Maschinenraum der Koalition hinein, klingt es weniger überhitzt: Stattdessen wissen eigentlich alle Beteiligten, dass jetzt hart verhandelt werden muss - das neue Zauberwort der Ampel heißt "priorisieren".

Eine Kindergrundsicherung, Bürgergeld, Klimageld und auch 400.000 neue Wohnungen: Die Koalition hat sich mit ihrem Titel "Mehr Fortschritt wagen" viel vorgenommen, auch finanziell. Das war bereits bei Unterschrift des Vertrages aus Sicht von Ökonomen nur finanzierbar, wenn Steuergelder sprudeln und die Konjunktur Auftrieb hat. Spätestens seit Putins Angriffskrieg und seinen Folgen ist die Finanzierung Makulatur.

"Höhere Zukunftsinvestitionen, Einhalten der Schuldenbremse und zugleich keine Steuererhöhungen - das ist die Quadratur des Kreises", sagt Ökonom Marcel Fratzscher im Gespräch mit tagesschau.de. "Das ist eine Krisenzeit - da muss man reagieren statt vier Jahre einen Plan umzusetzen, der unter anderen Voraussetzungen gemacht wurde", so der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung. Die spannende Frage sei, ob die Ampel dazu in der Lage sei. Im Moment sehe es da nicht so gut aus.

Bedingung für Regierungsbeteiligung der FDP

Im Zentrum der Auseinandersetzung steht Lindner, der sich als Finanzminister wie seine Vorgänger Scholz und Wolfgang Schäuble nun als strenger Wächter der Schuldenbremse geriert - aber auch, weil Haushaltskonsolidierung schon eines seiner Mantren im FDP-Wahlkampf war. Zusammen mit der Absage an Steuererhöhungen machte Lindner die Schuldenbremse zur Bedingung für den Eintritt in eine Regierung.

Allerdings will auch Bundeskanzler Olaf Scholz aktuell die Schuldenbremse für 2023 nicht nochmals antasten, nachdem sie pandemiebedingt ab 2020 ausgesetzt war und von seiner neuen Regierung auch für 2022 mit Begründung einer "außergewöhnlichen Notsituation" durch Pandemie und Ukraine-Krieg nicht wieder eingesetzt wurde.

Scholz setzt auf den Kompromiss

Im Lichte der von Scholz sogenannten Zeitenwende, die der Ampel bei der Umsetzung ihrer Projekte zu schaffen macht, stellt sich natürlich die Frage: War es ein taktischer Fehler der Kanzlerpartei, in einem neuartigen - auf Bundesebene so noch nie dagewesenen -Dreierbündnis ausgerechnet das mit einem Vetorecht ausgestattete Finanzministerium in die Hand des kleinsten Koalitionspartners zu geben und sich dabei erpressbar zu machen? Oder einer des mittleren Koalitionspartners der Grünen, auf diesem Ministerium für Habeck nicht zu bestehen?

Scholz könnte im Zweifel seine Richtlinienkompetenz ausspielen, käme es hart auf hart bei Finanzierungsfragen. Doch in seiner Partei gilt er nicht als einer, der mit der Faust auf den Tisch haut und womöglich gar den Finanzminister öffentlich diskreditiert. Man gibt sich dort zuversichtlich, dass er es auf seine Art löst: Alle an den Tisch holen und Kompromisse verhandeln. Am Ende, so hört man es aus den Parteien, werden alle drei ihre Herzensprojekte definieren müssen und die priorisiert behandeln.

Bundesfinanzminister Lindner zu den anstehenden wirtschaftlichen Folgen des Ukraine-Kriegs

Kristin Schwietzer, ARD Berlin, tagesschau 16:00 Uhr

Widersprüchliche Ziele?

Allerdings klingt das wiederum bei Lindner etwas anders als innerhalb der SPD. "Wir erreichen Konsolidierung im Staatshaushalt durch Priorisierung", so Lindner in seiner Rede beim "Tag der deutschen Industrie" - es sei eben nicht alles gleichzeitig möglich. Bei der SPD wiederum, die im Wahlkampf gerade mit dem Thema "Respekt" und Versprechen beim Wohnungsbau punktete, ist man nicht bereit, eines der vereinbarten Projekte zu verzichten. Die Grünen wiederum halten an ihren Klimaschutzzielen fest, wenngleich von dort noch eher gemäßigte Stimmen kommen: Man sei auch in der Verantwortung, vorhandene teure Maßnahmen auf ihre Wirksamkeit zu überprüfen, statt immer nur zusätzliche Ausgaben zu generieren.

Und doch, der aktuelle Streit um den - auch von der EU geplanten - Ausstieg aus dem Verbrennungsmotor zeigt: Die Ampel ist in den Mühen der Ebene angekommen. Während Lindner zwar schnell Subventionen beim Kauf von E-Autos beenden will, ist er gleichzeitig nicht bereit, dem Verbrenner-Verbot zuzustimmen. Wenn die FDP einerseits kein Geld ausgeben und keine Steuern erhöhen, aber auch solche politischen Instrumente nicht akzeptieren will, dann wird es für SPD und Grüne langsam schwierig.

Vor Scholz liegen damit harte Verhandlungswochen, für die ein Koalitionsausschuss-Abend sicher nicht ausreichen wird. Vermutlich nutzt ihm, dass er als ehemaliger Finanzminister sowohl einen Draht zu Lindner hat - als auch intimere Kenntnisse der fiskalpolitischen Trickkiste, die noch einen Kompromiss jenseits der Schuldenbremse auch für 2023 ermöglicht.

Martin Polansky, Martin Polansky, ARD Berlin, 21.06.2022 22:14 Uhr

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete tagesschau24 am 19. Juni 2022 um 09:00 Uhr.