Ukrainische Flüchtlinge warten vor einer Registrierungsstelle. (Archiv)

Krieg gegen die Ukraine Rekord-Zuwanderung in Deutschland erwartet

Stand: 10.10.2022 17:01 Uhr

Knapp eine Million Menschen sind bis August aus der Ukraine nach Deutschland geflohen. Bis zum Jahresende wird die Zahl noch höher liegen als 2015, sagt die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit. Die Union drängt auf ein "stärkeres Handeln".

Der Krieg in der Ukraine sorgt in Deutschland voraussichtlich für das zuwanderungsstärkste Jahr seit der Wiedervereinigung. Wie die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit (OECD) mitteilte, wird die Zahl der Zuzüge bis Jahresende voraussichtlich höher liegen als 2015. Damals waren - vor allem in Folge des Bürgerkriegs in Syrien - binnen eines Jahres mehr als 2,1 Millionen Menschen nach Deutschland gekommen.

Im laufenden Jahr registrierte das Statistische Bundesamt allein von Februar bis August mehr als 1,8 Millionen Zuzüge nach Deutschland, darunter etwa 952.000 vor dem russischen Angriffskrieg geflohene Ukrainerinnen und Ukrainer.

OECD: "Historische Massenflucht"

Im jüngsten Migrationsbericht der OECD ist infolge des russischen Angriffs von einer historischen Massenflucht die Rede. Demnach flohen aus der Ukraine allein bis Mitte September rund fünf Millionen Menschen in die OECD-Staaten. Deutschland ist mit nahezu einer Million Flüchtlinge nach Polen das wichtigste Aufnahmeland in der OECD.

In Deutschland haben Aufnahme und Integration der Ukrainer nach Einschätzung der Forscher deutlich besser funktioniert als bei der Flüchtlingskrise von 2015. "Man hat schon eine Menge gelernt", sagte Thomas Liebig, Leiter der OECD-Abteilung für Internationale Migration. Er verwies etwa auf Integrationskurse und die Aufnahme-Infrastruktur. Der Zugang zum Arbeitsmarkt sei mit einer Quote von 10 bis 15 Prozent in den meisten OECD-Ländern allerdings relativ bescheiden.

65 Prozent sind Frauen und Mädchen

Nach Zahlen des Statistischen Bundesamts wurden die meisten Zuzüge aus der Ukraine im März (431.000) und April (198.000) gezählt - also in den ersten beiden Monaten nach dem russischen Angriff. Danach sank die Zahl wieder, lag aber weiterhin deutlich über dem Vorjahresniveau. 65 Prozent der Ukraine-Flüchtlinge seien Frauen und Mädchen gewesen. 37 Prozent der Eingewanderten waren minderjährig.

Faeser besorgt über die Zahlen

Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) zeigte sich besorgt über die Entwicklung der Flüchtlingszahlen. "Neben der großen Fluchtbewegung aus der Ukraine kommen derzeit auch übers Mittelmeer und die Balkanroute wieder mehr Menschen nach Europa und das bereitet mir Sorge", sagte Faeser bei einem Besuch des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (Bamf) in Nürnberg.

Es seien sowohl die Zahlen der Asylanträge als auch die der unerlaubten Einreisen zuletzt gestiegen. Dies sei nicht nur in Deutschland so, sondern innerhalb der Europäischen Union insgesamt, sagte Faeser. Der Druck an den EU-Außengrenzen steige insgesamt an. "Das beobachten wir zwar jedes Jahr im Sommer und Herbst, aber dieses Jahr hat diese Entwicklung eine höhere Dynamik."

Sie sei deshalb in einem sehr engen Austausch mit den Innenministern von Tschechien und Österreich, die inzwischen auch ihre Grenzen sehr viel stärker schützen und kontrollieren würden.

Faeser sagt Hilfe zu

Faeser sagte vor ihren für morgen geplanten Gesprächen mit den kommunalen Spitzenverbänden und Vertretern der Bundesländer mehr Hilfe des Bundes zu. Es werde in den Kommunen "langsam sehr eng", es gebe wieder die ersten Belegungen von Turnhallen mit Flüchtlingen. Deshalb werde der Bund bei der Unterbringung helfen, indem weitere Bundesimmobilien für die Aufnahme von Flüchtlingen zur Verfügung gestellt würden, sagte die Ministerin.

Außerdem sei der Bund dabei, über eine Kooperation mit den Ländern über neue Erstaufnahmeeinrichtungen nachzudenken.  Es gehe aber vor allem auch darum, die Zahlen zu begrenzen, unterstrich Faeser. Es handle sich um ein gesamteuropäisches Thema, weshalb sie es am Freitag bei den Beratungen der EU-Innenministerinnen und -minister in Luxemburg ansprechen werde.

Union: "Mitten in einer Migrationskrise"

Die Union dringt unterdessen auf ein stärkeres Handeln des Bundes. Die Ampelkoalition bearbeite dies derzeit als "Nebenthema", kritisierte die stellvertretende Vorsitzende der Union im Bundestag, Andrea Lindholz (CSU). Es sei "kein Zustand", dass wieder Turnhallen zur Unterbringung von Menschen herangezogen würden, sagte sie. Der innenpolitische Sprecher der Fraktion, Alexander Throm (CDU), sagte: "Wir sind mitten in einer Migrationskrise."

Lindholz forderte die Bundesregierung auf, in der EU auf eine fairere Verteilung der Flüchtlinge zu drängen. Seit 2015 wird in der EU darüber verhandelt, bisher ohne Erfolg. Lindholz und Throm forderten zudem, die von der Ampel geplanten Liberalisierungen im Asylrecht mindestens zurückzustellen oder gar nicht durchzusetzen.

SPD, Grüne und FDP planen unter anderem ein Chancen-Bleiberecht, das langjährig in Deutschland Geduldeten die Möglichkeit zu einem regulären Aufenthalt geben soll.

Städtetag: Mehr Kapazitäten schaffen

Der Deutsche Städtetag appelliert eindringlich an Bund und Länder, angesichts der steigenden Flüchtlingszahlen mehr Verantwortung zu übernehmen und mehr Kapazitäten für die ankommenden Menschen zu schaffen. "Die Lage ist aktuell sehr ernst. Denn in vielen Städten sind alle Aufnahmeeinrichtungen voll belegt und das schon vor dem Winter", sagte Städtetagsvizepräsident Burkhard Jung dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND). Bereits jetzt müssten einige Städte auf Turnhallen und andere Notunterkünfte zurückgreifen. Auch die Zahl der unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge steige.

Jung: Ungleiche Verteilung der Flüchtlinge

Aus Sicht von Jung gibt es bei der Verteilung der Geflüchteten aus der Ukraine eine ungleiche Verteilung auf die Länder. "Und innerhalb der Länder gibt es ein Ungleichgewicht zulasten der großen Städte", bemängelte er. Dieser Effekt dürfe sich nicht weiter verstärken. Neu ankommende ukrainische Geflüchtete müssten gleichmäßig verteilt werden.

Jung, der auch Oberbürgermeister von Leipzig ist, machte klar, dass die Kommunen "allein die Unterbringung nicht mehr stemmen" könnten. Er fordert: "Bund und Länder müssen sich auf mehr Flüchtlinge einstellen und mehr Kapazitäten schaffen, in denen Menschen aufgenommen werden können." Jung betonte zugleich, dass die Kommunen in ihrer Hilfe für die Geflüchteten aus der Ukraine nicht nachlassen wollten. 

Für die Kommunen sei wichtig, dass Bund und Länder außerdem die Verteilung der Schutzsuchenden besser koordinierten. Und die Länder dürften sich nicht aus ihrer Verantwortung zur Aufnahme weiterer Geflüchteter verabschieden. "Es muss klar sein, wie viele Menschen voraussichtlich wohin kommen, damit sich die Städte vorbereiten können."

Simone Steffan, ARD Berlin, 11.10.2022 05:47 Uhr