Digitales Gedenken Eine App erklärt die Geschichte der Opfer
Vor 34 Jahren wurde der erste Stolperstein verlegt, um an NS-Opfer zu erinnern. Nach Nordrhein-Westfalen haben nun auch Schleswig-Holstein und Bremen die Idee mit einer App digital weiterentwickelt.
Lena und Ida zeigen, wie einfach es geht. Mit ihrem Tablet scannen die Neuntklässlerinnen den Stolperstein vor einem Haus in der Bremer Innenstadt. Wenig später blinkt auf dem Display die Biografie von Wolfgang Wille auf. Vor rund 100 Jahren hat er in dem Haus gelebt, vor dem sie nun stehen. 1944 wurde Wille von den Nationalsozialisten ermordet.
Mit der NS-Herrschaft haben sie sich im Geschichtsunterricht beschäftigt, erzählen die Schülerinnen, aber die Stolpersteine kannten sie bisher noch nicht. "Ich finde es interessant, etwas über die Menschen zu lernen", sagt die 14-jährige Lena. Ida ergänzt: "Wie krass das früher war, das kann man sich gar nicht vorstellen."
Hunderttausendfaches Gedenken
1992 verlegte der Künstler Gunter Demnig den ersten Stolperstein, heute machen die kleinen Gedenktafeln aus Messing in beinahe jeder deutschen Stadt auf das Schicksal von NS-Opfern aufmerksam. Längst ist es ein europaweites Projekt: Mehr als 100.000 Stolpersteine gibt es in 31 Ländern.
800 solcher Steine sind es in Bremen. Sie alle sind nun in der neuen App namens "Stolpersteine digital" erfasst und mit den Biografien der Opfer hinterlegt. Der Stein funktioniert dann wie ein QR-Code. Herunterladen und nutzen kann die App jeder. In Bremen soll das neue Angebot zudem ganz gezielt im Schulunterricht eingesetzt werden.
Nordrhein-Westfalen hat mit diesen Unterrichtseinheiten zur Erinnerungskultur schon gute Erfahrungen gemacht. Hier können Schülerinnen und Schüler sogar selbständig Inhalte für die "Stolpersteine NRW"-App recherchieren und erstellen.
Für Schüler soll Geschichte erlebbar werden
In Bremen und Schleswig-Holstein ist die App auf den Tablets vorinstalliert, die alle Schülerinnen und Schüler im kleinsten deutschen Bundesland für den Unterricht gestellt bekommen. "Was wir in der analogen Welt vorfinden, das bringen wir in den digitalen Raum, um den Schülerinnen und Schülern dort zu begegnen, wo sie sich befinden", sagt Bremens SPD-Bildungssenatorin, Sascha Aulepp.
Entwickelt hat die App der IT-Dienstleister Dataport im Auftrag der Landeszentrale für politische Bildung, zunächst für Schleswig-Holstein, nun auch für Bremen. "Auf uns kommen immer wieder Schulen zu, die gerne mit Biografien von NS-Opfern arbeiten möchten", sagt der Leiter der Bremer Landeszentrale Thomas Köcher.
"Jetzt können wir ihnen sagen, kein Problem. In der Nähe eurer Schule ist bestimmt irgendwo ein Stolperstein." Und den könnten sie jetzt mit der neuen App einfach scannen und etwas über die Person lernen.
Wenn die Schüler erfahren, welche Folgen der NS-Terror in ihrem unmittelbaren Umkreis hatte, in der Straße, in der sie leben, dann wirkt Geschichte viel unmittelbarer, als das ein Schulbuch vermag, so die Hoffnung.
Zwangssterilisiert, deportiert, ermordet
"Es sind ganz normale Menschen gewesen, die zu Opfern geworden sind", sagt Köcher. Es sei wichtig, dass die Schüler das verstehen. Die Nationalsozialisten verfolgten Menschen quer durch die Gesellschaft: Juden, Sinti und Roma, Homosexuelle, politisch Andersdenkende, aber auch psychisch kranke Menschen wie Wolfgang Wille, dessen Stein die Schülerinnen gerade gescannt haben.
Wille wurde mit 20 Jahren erstmals wegen einer psychischen Erkrankung behandelt. Er war aufgefallen, weil er im Geschäft seines Vaters Zigaretten gestohlen und auf eigene Rechnung verkauft hatte.
1928 kam er erneut in die Bremer Nervenklinik, wie die Psychiatrie damals hieß, und blieb. Dort war er den Nationalsozialisten, nachdem diese 1933 die Macht übernommen hatten, schutzlos ausgeliefert.
In der NS-Ideologie galten psychisch kranke Menschen ebenso wie Menschen mit Behinderungen als minderwertig. Sie sollten aus der Volksgemeinschaft "ausgemerzt" werden, wie es hieß. Der NS-Staat wollte verhindern, dass sie ihr Erbgut weitergeben.
Wolfgang Wille wurde 1934 zunächst zwangssterilisiert. 1943 dann deportierten ihn die Nationalsozialisten in die Krankenanstalt Meseritz-Obrawalde in der Provinz Posen im heutigen Polen. Dort wurde er ein Jahr später ermordet.
Hoffnung auf deutschlandweite App
Dass die Geschichte von Wolfgang Wille und anderen Opfern über die neue App zugänglich ist, liegt auch an Lars Mischak. Vor gut zehn Jahren hatte er im Kulturamt in Kiel mit den Stolpersteinen zu tun, später in einem Museum im Rendsburg. "Das war eine sehr analoge Arbeit damals", erinnert er sich.
Die Landeshauptstadt Kiel hatte immerhin schon eine Internetseite, auf der die Biografien zu finden waren. "In vielen Dörfern waren die Informationen auf Papierflyern vermerkt, anderswo lag das Wissen in der Hand von Ehrenamtlichen."
Gemeinsam mit dem Landesbeauftragten für politische Bildung in Schleswig-Holstein machte sich Mischak, inzwischen beim IT-Dienstleister Dataport beschäftigt, daran, das Wissen zusammenzutragen und zu digitalisieren. Im vergangenen Jahr ging die App dann an den Start, zunächst in Kiel und Rendsburg.
Inzwischen sind alle Stolpersteine in Schleswig-Holstein und Bremen erfasst. Im Januar kommt mit Schwerin das Land Mecklenburg-Vorpommern hinzu. Zusammen mit den Stolpersteinen in Nordrhein-Westfalen, wo bereits mehr als 17.000 Steine digital zugänglich sind, ist damit schon ein beträchtlicher Teil der deutschen Stolpersteine digital verfügbar.
Aber es gibt noch mehr. Hunderttausend Steine mit hunderttausend bewegenden Geschichten, die darauf warten, erzählt zu werden. Damit nicht nur Schülerinnen und Schüler Geschichte besser verstehen.