Pfadfinder nehmen an einer Pressekonferenz zur Vorstellung einer Studie zu sexualisierter Gewalt bei den Pfadfindern teil.

Studie zu Missbrauch Dutzende Fälle sexualisierter Gewalt bei Pfadfindern

Stand: 29.02.2024 16:44 Uhr

Der Bund der Pfadfinderinnen und Pfadfinder hat seine eigene Geschichte auf sexualisierte Gewalt untersuchen lassen. Ein Ergebnis der Studie: Wenn Fälle überhaupt aufgedeckt wurden, stand nicht der Schutz der Opfer im Mittelpunkt.

Im Bund der Pfadfinderinnen und Pfadfinder (BdP) in Deutschland hat es von 1976 bis 2006 mindestens 103 Betroffene sexualisierter Gewalt gegeben. Der Taten beschuldigt werden 36 Personen. Das ist das Ergebnis einer jetzt vorgestellten Untersuchung zur sexualisierten Gewalt beim BdP. Diese wurde vom Münchner Institut für Praxisforschung und Projektberatung (IPP) und dem Berliner "Dissens - Institut für Bildung und Forschung" durchgeführt.

Bezieht man auch Taten mit ein, die nicht dem Verband und nicht dem exakten Untersuchungszeitraum zugeordnet werden konnten, erhöhe sich die Zahl auf 149 Betroffene und mindestens 60 Beschuldigte, heißt es in dem Bericht weiter. Das sei beispielsweise der Fall, wenn bei den Betroffenenbefragungen hinsichtlich der Täter und Opfer Pluralformen verwendet wurden, die nicht eindeutig zugeordnet werden konnten. Es sei zudem von einem großen Dunkelfeld nicht bekannt gewordener Taten auszugehen.

Abschlussberichts "Grenzenlose Orte - Sexualisierte Gewalt im Bund der Pfadfinderinnen und Pfadfinder (BdP) 1976 bis 2006"

Der Abschlussbericht "Grenzenlose Orte - Sexualisierte Gewalt im Bund der Pfadfinderinnen und Pfadfinder 1976 bis 2006" wurde in München der Presse vorgestellt.

Umgang mit Opfern "von Ignoranz geprägt"

Die in der Studie erfassten Taten fanden vor allem in den 1980er- und 1990er-Jahren statt. Betroffen von der sexualisierten Gewalt waren den Forschern zufolge Jungen und Mädchen gleichermaßen. Die Täter seien allerdings nahezu ausschließlich männlich. Dabei hätten sich "zwei Prototypen" herauskristallisiert: Zum einen der ältere, erwachsene Pfadfinder, zum anderen der Jugendliche oder junge Erwachsene, der seine Stellung als Leitungsfigur in der Gruppe nutzt, um Jüngere sexuell auszubeuten.

Als strukturelle Risikofaktoren haben die Forscher beispielsweise mangelnde Kontrolle und Anleitung junger Führungspersonen, Machtasymmetrien, starke Loyalität der Heranwachsenden zu ihrer Pfadfindergruppe und die fehlende Thematisierung von Sexualität und sexualisierter Gewalt identifiziert.

Immer wieder seien solche Taten auch aufgedeckt worden, jedoch sei "nicht nachhaltig dagegen vorgegangen worden", sagte IPP-Forscher Peter Caspari. Der Umgang beim BdP mit Betroffenen sei "von Ignoranz geprägt" gewesen. "Die Interventionen waren täterorientiert". Der Verband habe sich beim Umgang mit dem Thema über Jahrzehnte massiv selbst überschätzt.

BdP bittet um Entschuldigung

Die aktuelle BdP-Bundesleitung nahm nach der Präsentation der Studien-Ergebnisse Stellung dazu: "Wir möchten von ganzem Herzen um Entschuldigung bitten", sagte die Bundesvorsitzende Annika Schulz. Sollten Betroffene strafrechtlich relevante und nicht verjährte Fälle zur Anzeige bringen wollen, biete der BdP-Bundesverband seine Unterstützung dabei an.

Nach Angaben des BdP handelt es sich um die erste derartige Untersuchung in Deutschland, die sich auf einen Jugendverband bezieht. Die Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung, Kerstin Claus, sprach von einem wichtigen Signal, das Vorbild sein sollte auch für andere Jugendverbände, in den eigenen Reihen Aufarbeitung zu betreiben. "Erstmals zeigt diese Aufarbeitungsstudie damit auch, wie Machtgefälle, Rangordnungen und falsch verstandene Loyalitäten in Jugendverbänden insbesondere auch von sehr jungen Tätern ausgenutzt wurden - und diese Loyalität Aufarbeitung bei den Pfadfindern bis heute erschwert", sagte sie.

Der BdP ist ein interkonfessioneller und überparteilicher Verband. Er hat rund 30.000 Mitglieder in Deutschland. 2016 hatte sich der Verband dazu entschlossen, seine eigene Geschichte im Hinblick auf sexualisierte Gewalt untersuchen zu lassen. Das IPP in München und das "Dissens - Institut für Bildung und Forschung" haben dafür 56 qualitative Interviews mit 60 Personen geführt. Darunter waren 26 Betroffene und 22 Zeitzeugen sowie Experten. Außerdem wurde Material aus verschiedenen Archiven des Verbands gesichtet.