Ein Hinweisschild mit Bundesadler und dem Schriftzug "Bundesverfassungsgericht" steht vor dem Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe.

Verhandlung in Karlsruhe Trotz Freispruchs wieder vor Gericht?

Stand: 24.05.2023 08:28 Uhr

Ein Mann wird vom Vorwurf des Mordes freigesprochen. Jahre später tauchen Beweise gegen ihn auf, es soll einen neuen Prozess geben. Dagegen klagt der Mann. Das Verfassungsgericht muss nun eine Grundsatzfrage klären.

Von Max Bauer, ARD-Rechtsredaktion

In der Verhandlung am Bundesverfassungsgericht wird es heute um einen Mordfall gehen, der mehr als 40 Jahre zurückliegt: Frederike von Möhlmann ist 17 Jahre alt, als sie am 4. November 1981 auf dem Rückweg von einer Chorprobe wahrscheinlich bei einem fremden Mann ins Auto steigt. Vier Tage später wird sie tot aufgefunden, vergewaltigt und ermordet.

Ein Verdächtiger wird gefasst, aber 1983 rechtskräftig freigesprochen. 2012 tauchen dann neue Beweise auf. Eine DNA-Analyse, die in den 1980er-Jahren noch nicht möglich war, deutet darauf hin: Der 1983 freigesprochene Mann könnte doch der Täter sein. Spermaspuren sollen ihn belasten.

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Rechtskräftiger Freispruch verhindert zweites Verfahren

Ein neuer Strafprozess ist 2012 jedoch nicht möglich. Denn ein wichtiger Rechtsstaatsgrundsatz steht dem entgegen: In Art. 103 Absatz 3 des Grundgesetzes steht: "Niemand darf wegen derselben Tat (…) mehrmals bestraft werden."

Und nach der Rechtsprechung bedeutet das zugleich: Niemand darf wegen derselben Tat mehrmals vor Gericht gestellt werden. Wenn jemand rechtskräftig freigesprochen wurde, dann soll Rechtssicherheit gelten. Der Freigesprochene soll nicht ständig die Befürchtung haben müssen, dass er trotz des Freispruchs wieder vor Gericht landet.

"Ne bis in idem" nennen Juristinnen und Juristen diesen Grundsatz auf Lateinisch. Dass er 1949 ins Grundgesetz geschrieben wurde, hat auch mit der deutschen NS-Vergangenheit zu tun. Für die Nazi-Justiz galt die Rechtssicherheit nichts. Die Wiederaufnahme von Strafprozessen war immer möglich, "wenn die neue Verfolgung zum Schutz des Volkes notwendig" war. Zum Beispiel, wenn Urteile zu milde ausfielen, wurden die Angeklagten einfach erneut vor Gericht gestellt.

2021 wurde das Gesetz geändert

Bis 2021 war die Rechtslage eindeutig. Eine Wiederaufnahme zu Lasten des Angeklagten gab es nur in absoluten Ausnahmefällen. Nur wenn der Freigesprochene später ein Geständnis ablegte und einen neuen Prozess wollte, oder wenn im ersten Verfahren manipuliert, also zum Beispiel falsch ausgesagt wurde, war ein zweites Strafverfahren möglich.

Für Hans von Möhlmann, den Vater von Frederike, war es "unfassbar, dass ein Mann frei rumläuft", obwohl es Beweise gebe, dass er der Mörder seiner Tochter sein könnte. Hans von Möhlmann kämpfte jahrelang für eine Gesetzesänderung. 180.000 Unterstützer und Unterstützerinnen fand er für seine Petition. Und er hatte Erfolg: 2021 änderte die Große Koalition kurz vor dem Ende der Legislaturperiode die Rechtslage. Bei Taten, die nicht verjähren wie Mord oder Kriegsverbrechen, ist die Wiederaufnahme zu Lasten eines Freigesprochenen nun leichter möglich. Und zwar immer dann, wenn neue Beweise vorliegen, die "dringende Gründe" für eine Verurteilung sein können.

Landgericht Verden erlaubt zweiten Prozess

2022 stirbt Hans von Möhlmann. Aber im gleichen Jahr erklärt das Landgericht Verden die Wiederaufnahme des Strafverfahrens im Fall Frederike für zulässig. Gegen den Mann, der 1983 freigesprochen wurde, soll es einen neuen Prozess geben. Dagegen klagt er vor dem Bundesverfassungsgericht.

Eine Grundsatzfrage muss geklärt werden

Nun wird in Karlsruhe grundsätzlich über die Rechtsänderung von 2021 verhandelt, die den neuen Strafprozess im Fall Frederike möglich gemacht hat. Doch die Kritik an den neuen Regeln war schon 2021 groß. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hatte bei seiner Unterschrift unter das Gesetz verfassungsrechtliche Bedenken. Ebenso das Justizministerium, Anwaltsverbände und Verfassungsjuristen.

Rechtsanwalt Stefan Conen, der für den deutschen Anwaltverein Stellung genommen hat, meint: Der Rechtsstaatsgrundsatz "Ne bis in idem" schütze nicht Täter, sondern die, die in einem rechtsstaatlichen Verfahren freigesprochen wurden. Rechtssicherheit sei für Menschen wichtig, die sich bereits einem schweren Vorwurf ausgesetzt gesehen haben. Müssten sie nach dem Freispruch mit einer Wiederaufnahme rechnen, stünden diese Leute "ein Leben lang mit einem Makel da".

Karlsruhe muss abwägen

Zwei Rechtspositionen stehen sich nun bei der Verhandlung gegenüber: Auf der einen Seite: Das Interesse von Opfer-Angehörigen an Wahrheit und Gerechtigkeit sowie der staatliche Strafanspruch, schwere Straftaten zu ahnden; vor allem Morde, für die ja auch keine Verjährung gilt.

Auf der anderen Seite steht der Grundsatz der Rechtssicherheit. Die Verfechter der Rechtssicherheit weisen darauf hin, dass die neuen Regeln eine Wiederaufnahme nicht nur bei neuen DNA-Beweisen erlauben. Sondern zum Beispiel schon dann, wenn ein Zeuge sich plötzlich entschließt, auszusagen.

Im Fall Frederike kommt hinzu, dass das neue Recht nicht nur für die Zukunft gemacht wurde, sondern auf einen Fall aus der Vergangenheit angewandt wird. Das könnte gegen das rechtsstaatliche Verbot verstoßen, neue Gesetze rückwirkend für alte Fälle zu machen. Am heutigen Mittwoch wird in Karlsruhe auch diese Frage verhandelt. Ein Urteil soll es erst in einigen Monaten geben.

Max Bauer, Max Bauer, SWR, tagesschau, 23.05.2023 19:09 Uhr

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete Deutschlandfunk am 23. Mai 2023 um 18:40 Uhr.