Bürgergeld-Debatte "Die Menschen wollen arbeiten"
Die Politik diskutiert über schärfere Sanktionen beim Bürgergeld. Dabei gibt es nur einen sehr niedrigen Anteil an Totalverweigerern, sagt Sozialethiker Franz Segbers. Die meisten wollten arbeiten - auch wegen der sozialen Teilhabe.
tagesschau.de: Die Bürgergeld-Debatte dreht sich gerade stark um die sogenannten Totalverweigerer. Lassen sich damit die Sozialausgaben spürbar senken, wenn man bei dieser Gruppe ansetzt?
Franz Segbers: Da sind sich alle Fachleute einig in der Wissenschaft, aber auch die, die aus der praktischen Arbeit kommen, auch die Spitzen der Wohlfahrtsverbände: Sie stimmen darin überein, dass diese Debatte völlig falsch und auch an den Problemen vorbei läuft und mit falschen Zahlen operiert.
Wir haben 5,5 Millionen Menschen, die Bürgergeld beziehen und davon sind ein Drittel Kinder und Jugendliche. 1,7 Millionen Menschen sind arbeitslos und könnten arbeiten. Die Frage ist, wie kann man diese Zahl von 1,7 Millionen Menschen, die arbeiten könnten, aber nicht arbeiten gehen, reduzieren?
Wir leben in einer Arbeitsgesellschaft, die Menschen wollen arbeiten. Da geht es nicht nur um Geld. Es geht auch darum, soziale Teilhabe zu ermöglichen. Und der Lagerist, der arbeitslos geworden ist, der eine Gehbehinderung hat, sagt: Ich will der Gesellschaft nicht zur Last fallen. Ich will etwas ehrenamtlich der Gesellschaft zurückgeben. Und das ist die normalste und die allergrößte Haltung der Menschen, die das Bürgergeld beziehen.
Jetzt gibt es aber eine kleine Gruppe, das sind 16.000 Fälle, die betreiben Sozialbetrug. Wenn wir das umrechnen, sind das im Monat etwa 1.300 Menschen. Das ist bei 5,5 Millionen Bürgergeldbeziehern eine marginal kleine Gruppe. Wenn wir diese Quote bei Steuerbetrügern hätten, hätten wir eine traumhafte Quote. Aber darüber wird nicht diskutiert, sondern es wird über diese kleine Gruppe von Totalverweigerern geredet.
"Was ist uns der Sozialstaat wert?"
tagesschau.de: Warum wird mit den Totalverweigerern so gegen das Bürgergeld Stimmung gemacht?
Segbers: Wir sind nach der großen Zeitenwende, wo wir Milliarden für die militärische Aufrüstung ausgeben, um Bündnisverpflichtungen nachzukommen, jetzt in einer Debatte angekommen, die ich gerne Sozialstaatswende nennen möchte.
Das heißt, wir ringen eigentlich darum: Was ist der Sozialstaat uns in unserer Gesellschaft wert, was lassen wir ihn uns kosten? Das ist, glaube ich, die zentrale Debatte, die geführt werden müsste. Wir brauchen eine neue Wertschätzung des Sozialstaates. Der Sozialstaat verteilt nicht Güter nach der Almosenmanier, sondern er gibt Bürgerinnen und Bürgern Rechte.
Im Sozialstaat hat jeder Bürger das Recht, ein vollwertiger Bürger zu sein, auch dann, wenn er ohne Arbeit dasteht. Und diesen Menschen, die in Not sind, gibt der Sozialstaat Schutz vor Not und Schutz in der Not. Und das ist die Debatte, die wir führen müssten. Welchen Schutz können wir geben? Welche Hilfe können wir den Menschen geben, die in Not geraten? Anstatt eine klitzekleine Gruppe zu markieren und sie populistisch in die Debatte so einzuführen, dass alle, die Bürgergeld beziehen, auf einmal an den Pranger gestellt werden.
Wer Bürgergeld bezieht, nimmt ein soziales Recht in unserem Staat wahr. Und da, wo Sozialbetrug geleistet werden muss, da muss das geahndet werden, ohne Wenn und Aber. Aber es ist kein Grund, eine populistische Debatte mit einer Respektlosigkeit zu führen. Diese Respektlosigkeit führt auch dazu, dass Menschen sich ungerecht behandelt fühlen, dass sie darüber empört sind, wie man mit uns umgeht. Wir brauchen mehr Respekt und mehr Anerkennung sozialer Rechte. Es ist die Verantwortung einer Gesellschaft, sich zu fragen: Was ist mir das wert, dass niemand in dieser Gesellschaft in Not und in Armut leben müsste?
"Wer arbeitet, hat mehr"
tagesschau.de: Es gibt auch das Argument, arbeiten würde sich im Bürgergeldsystem nicht mehr lohnen. Wie sehen denn die Fakten dazu aus?
Segbers: Die Fakten sprechen eine eindeutige Sprache. Alle Untersuchungen, die es gibt, belegen, dass jeder, der einer Arbeit nachgeht - auch einer Arbeit im Niedriglohnsektor - in allen Konstellationen, ob als Single oder als Teil einer Großfamilie, immer mehr hat als derjenige, der im Sozialbezug nach dem Bürgergeld lebt.
Das sieht man schon daran, dass derjenige, der erwerbstätig ist und auch im Niedriglohnsektor tätig ist, das Recht hat, Wohngeld zu beziehen. Der kann einen Kinderzuschlag und Kindergeld bekommen. Was viele gar nicht wissen: Eine Erhöhung des Kindergeldes kommt bei den wirklich Armen, die Bürgergeld beziehen, überhaupt nicht an, sondern wird bei ihnen abgerechnet.
Also alle Untersuchungen, die es gibt, stimmen darin überein: Wer arbeitet, hat allemal mehr als derjenige, der Bürgergeld bezieht. Und noch ein zweites muss man dazu sagen: Die Entwicklung des Bürgergeldes verläuft in den letzten Jahren nicht parallel zur Entwicklung des Mindestlohns.
Wir haben eine Erhöhung des Mindestlohns erlebt, glücklicherweise. Er ist immer noch zu niedrig. Er führt Menschen immer noch nicht aus Armut trotz Arbeit. Aber der Lohnabstand zwischen dem Bürgergeld und dem Erwerbseinkommen ist größer geworden. Und es gibt überhaupt keine statistischen Daten, mit denen sich belegen ließe, dass seit der Einführung des Bürgergeldes die Abgänge aus einem Job aus Erwerbsarbeit in Bürgergeld zugenommen hätten.
Das Gespräch führte Jan Starkebaum bei tagesschau24. Für die schriftliche Version wurde es redigiert und gekürzt.