ARD-DeutschlandTrend Rot-Grün überflügelt die Koalition
Der Aufschwung ist in der Wahrnehmung der Bürger angekommen. Das ist das Ergebnis des DeutschlandTrends. Doch die Regierungskoalition profitiert davon nicht: Sie steckt weiter im Umfragetief - allen voran die Union. Erstmals seit Jahren hätten SPD und Grüne dagegen wieder eine Mehrheit.
Von Jörg Schönenborn, WDR
Die Stimmung im Land hat sich in erstaunlich kurzer Zeit erstaunlich deutlich gewandelt: Den viel zitierten Aufschwung gibt es nicht nur in der Statistik, auch die Befragten im ARD-DeutschlandTrend nehmen ihn wahr. Und von der fast depressiven Stimmung im Frühjahr ist nichts mehr zu merken - im Gegenteil: Der Optimismus ist messbar.
Umso erstaunlicher, dass die amtierende Bundesregierung davon Null Komma Null profitiert. Sie ist noch weiter abgerutscht, in den demoskopischen Tiefkeller. In der Sonntagsfrage sinkt das sogenannte bürgerliche Lager aus Union und FDP auf den tiefsten Wert, den wir im ARD-DeutschlandTrend je gemessen haben. CDU/CSU verlieren gegenüber dem Vormonat zwei Punkte und liegen bei 31 Prozent, die FDP erreicht unverändert fünf Prozent. Mit zusammen 36 Prozent steht die Regierungskoalition mehr als zwölf Prozentpunkte schlechter da als bei der Bundestagswahl im letzten September.
Sonntagsfrage: Eigenständige Mehrheit für Rot-Grün
Im Gegenzug setzt sich der Aufstieg von Rot-Grün fort: Die SPD klettert erneut um einen Punkt auf 31 Prozent. Das ist ihr bester Wert seit Juni 2007. Und es ist das erste Mal seit November 2006, dass die Sozialdemokraten nicht mehr hinter der Union liegen. Zusammen mit den Grünen, die unverändert 17 Prozent erreichen, gibt es nun erstmals seit fast acht Jahren für Rot-Grün wieder eine eigenständige Mehrheit - jedenfalls dann, wenn am nächsten Sonntag tatsächlich gewählt würde.
Für die Sonntagsfrage hat Infratest dimap am Montag, Dienstag und Mittwoch dieser Woche 1.500 zufällig ausgewählte Wahlberechtigte in Deutschland befragt.
50 Prozent erwarten wirtschaftlich positive Zukunft
Die Parallelität von spürbar verbesserter Wirtschaftslage und weiterem Sturz der Regierung ist ungewöhnlich. Im letzten Aufschwung in den Jahren 2006 bis 2008 war es genau umgekehrt: Er hatte viel zur relativen Popularität der damaligen Großen Koalition beigetragen.
Gegenwärtig beurteilen 42 Prozent der Befragten die wirtschaftliche Lage als "gut" oder "sehr gut". Das ist das Niveau der Vor-Krisen-Monate des Sommers 2008. Noch besser sind die Werte sogar, wenn man nach der weiteren wirtschaftlichen Entwicklung fragt. 50 Prozent der Befragten gehen davon aus, dass Deutschland in einem Jahr wirtschaftlich noch besser dastehen wird. Soviel Optimismus gab es seit Jahren nicht. Allerdings ist es auch nachvollziehbar, dass nach der tiefen Krise der vergangenen eineinhalb Jahre der Aufschwung jetzt auch deutlicher wahrgenommen wird.
Wenige fühlen sich als Profiteure des Aufschwungs
Immerhin 58 Prozent der Befragten geben an: "Man merkt, dass es mit der Wirtschaft wieder bergauf geht." Eine andere Antwort verrät allerdings ein ähnliches Bild wie im letzten Aufschwung: "Den Unternehmen geht es zwar besser, aber die Beschäftigten merken nichts davon", meinen 77 Prozent. In den Jahren 2007 und 2008 hatten jeweils um die 75 Prozent der Befragten angegeben, dass sie den Aufschwung zwar wahrnähmen, aber persönlich davon nicht profitierten.
Auch dieser Aufschwung ist erneut ein Phänomen, das die Besserverdienenden viel stärker wahrnehmen als die Bezieher niedriger Einkommen. So erklären bei einem Haushaltsnettoeinkommen von mehr als 3000 Euro 77 Prozent, sie registrierten den Aufschwung. In der Einkommensgruppe unter 1500 Euro sind es nur 46 Prozent.
Breite Zustimmung für Lohnforderungen
Der Rückblick auf die gut eineinhalb Jahre Wirtschafts- und Finanzkrise fällt ähnlich aus: In der oberen Einkommensgruppe fühlen sich lediglich 18 Prozent als Krisenopfer. Und nur ein Drittel von ihnen macht sich Sorgen um die eigenen Ersparnisse. In der unteren Einkommensgruppe herrscht dagegen ein ganz anderes Bild: 44 Prozent fühlen sich persönlich von der Krise betroffen. Und zwei Drittel sorgen sich um ihr erspartes Geld.
Nachvollziehbar ist bei diesem Stimmungsbild, dass die Forderungen der Gewerkschaften nach Lohnerhöhungen in der beginnenden Tarifrunde breiten Rückhalt finden. Die mehrfach geäußerte Forderung, dass die Erhöhungen mindestens drei Prozent betragen müssten, halten 71 Prozent der Befragten für angemessen. Nur 26 Prozent sehen das anders. Diese breite Zustimmung zieht sich quer durch alle politischen Lager.
82 Prozent für Erhalt der Rentengarantie
Abgelehnt wird hingegen der Vorstoß von Bundeswirtschaftsminister Rainer Brüderle, die Einwanderung ausländischer Fachkräfte, etwa von Ingenieuren und Computerfachleuten, zu erleichtern. Mehr als zwei Drittel der Befragten (68 Prozent) sprechen sich dagegen aus. Und noch in einem anderen Punkt gibt es für Brüderle Gegenwind: 82 Prozent der Befragten fordern, dass die zuletzt diskutierte Rentengarantie erhalten bleibt. Nur 16 Prozent sind der Ansicht, dass es künftig wieder möglich sein sollte, dass die Renten dann sinken, wenn auch die Löhne der Arbeitnehmer sinken.
Mehrheit hält Hartz-IV-Erhöhung für nicht notwendig
Neben Politikern der Opposition hatten Anfang der Woche auch prominente Bischöfe der katholischen und evangelischen Kirche eine deutliche Erhöhung der Regelsätze für Hartz-IV-Bezieher gefordert. Der Bundesregierung ist vom Verfassungsgericht auferlegt worden, die Sätze neu zu berechnen und insbesondere die Situation von Kindern zu überprüfen. Die Mehrheit der Befragten ist da eher zurückhaltend. Nur 41 Prozent halten die gegenwärtigen Hartz-IV-Sätze von 359 Euro zuzüglich Miete und Heizkosten für "eher zu niedrig".
45 Prozent betrachten die gegenwärtigen Hartz-IV-Sätze als angemessen, neun Prozent halten sie für "eher zu hoch". In der Summe gibt es also eine Mehrheit von 54 Prozent, die eine Erhöhung nicht für notwendig halten. Eine breite Zustimmung gibt es dagegen für die Idee von Arbeitsministerin Ursula von der Leyen, spezielle Hartz-IV-Leistungen für Kinder nicht mehr in bar auszuzahlen, sondern in Form von Gutscheinen auszugeben. 83 Prozent der Befragten unterstützen diese Idee.
Zu Guttenberg mit der höchsten Popularität im Kabinett
Statt wie sonst üblich nach der Leistung der Spitzenpolitiker aller Parteien haben wir in diesem ARD-DeutschlandTrend ausnahmsweise nach der Leistung sämtlicher Kabinettsmitglieder gefragt. Neben der Bundeskanzlerin gehören dazu fünfzehn Bundesminister. Mit weitem Abstand die höchste Popularität genießt Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg. 71 Prozent sind mit seiner Leistung zufrieden. Nur zwei weitere Minister erreichen Werte über 50 Prozent: Arbeitsministerin von der Leyen mit 56 und Finanzminister Wolfgang Schäuble mit 53 Prozent.
Auf Rang vier folgt das einzige FDP-Kabinettsmitglied, das mehrheitlich positiv bewertet wird. Sabine Leutheusser-Schnarrenberger erreicht 49 Prozent Zustimmung (bei 34 Prozent Ablehnung). Ebenfalls vor der Kanzlerin rangieren Innenminister Thomas de Maizière (44 Prozent) und Umweltminister Norbert Röttgen (42 Prozent). Angela Merkel erzielt gegenwärtig mit nur 41 Prozent Zustimmung den zweitschlechtesten Wert seit Beginn ihrer Kanzlerschaft. In besseren Tagen zu Beginn der Großen Koalition hatte sie immerhin Spitzenwerte von um die 80 Prozent erzielt.
Vier FDP-Minister am Ende der Beliebtheitsskala
Zu den letzten fünf Ministern am Tabellenende zählen vier Minister der FDP: Auf dem zwölften Rang liegt Wirtschaftsminister Brüderle (23 Prozent) vor Kanzleramtsminister Ronald Pofalla (22 Prozent), Außenminister Guido Westerwelle (22 Prozent), Entwicklungsminister Dirk Niebel (21 Prozent) und als Schlusslicht Gesundheitsminister Philipp Rösler (18 Prozent).
Während sich Wirtschaft und Stimmung erholen, wartet die Bundesregierung also weiter auf ihren Aufschwung. Union und FDP sind genauso wie ihre jeweiligen Vorsitzenden gleichermaßen im Stimmungstief. Und erstmals seit dem Sommer 2002 wünscht sich im DeutschlandTrend wieder die Mehrheit der Befragten eine SPD-geführte Regierung. 42 Prozent sind der Ansicht, das Deutschland in der gegenwärtigen Situation eine SPD-geführte Regierung haben sollte. Nur 32 Prozent halten an einer Unions-geführten Regierung fest. Weniger als ein Jahr nach dem deutlichen Ergebnis der Bundestagswahl ist das ein gewaltiger Absturz.
Stichprobe: Repräsentative Zufallsauswahl / Randomstichprobe
Erhebungsverfahren: Computergestützte Telefoninterviews (CATI)
Fallzahl:
Sonntagsfrage: 1500 Befragte
Alle anderen Fragen: 1000 Befragte
Erhebungszeitraum:
02. bis 03. August 2010
Sonntagsfrage: 02. bis 04. August 2010
Fehlertoleranz:
1500 Befragte: 1,1 bis 2,5 Prozentpunkte
1000 Befragte: 1,4 bis 3,1 Prozentpunkte