Menschen aus Ost- und West-Berlin sind auf die Mauer am Brandenburger Tor in Berlin geklettert

Multimedia-Dossier Die Wende - Rückblick auf den Mauerfall

Stand: 07.10.2019 04:30 Uhr

Die Montagsdemos in Leipzig, die Flüchtlinge, die in den Botschaften von Prag und Budapest und Ostberlin auf ihre Ausreise hofften, der Mauerfall am 9. November. Historische Momente. Zwölf Videos, die die Dramatik des Geschehens zeigen.

Von Sophia Stritzel und Nea Matzen, tagesschau.de

07.05.1989 / Der Auslöser: Wahlfälschungen aufgedeckt

Dass Wahlergebnisse in der DDR gefälscht wurden, vermuteten viele. Doch nach der Schließung der Wahllokale am 7. Mai 1989 wollen es Bürgerrechtler in Leipzig genau wissen: Hunderte Freiwillige finden sich ein, um die Auszählung der Stimmen zu kontrollieren. Sie verstoßen damit gegen kein Gesetz, denn im Wahlgesetz der DDR steht: "Die Stimmauszählung ist öffentlich." In fast allen Wahlkreisen werden von den Beobachtern deutlich mehr Neinstimmen registriert als offiziell bekanntgegeben wurden. Die Oppositionsbewegung fühlt sich gestärkt. Sie ruft zu Demonstrationen auf:

Am 7. jedes Monats demonstrieren von da an in Ost-Berlin vor Kirchen und auf dem Alexanderplatz immer mehr Menschen gegen den Wahlbetrug.

19.08.1989 / Die erste Welle: Flucht über Ungarn

Beim Paneuropäischen Picknick im ungarischen Sopron wird ein Grenztor zwischen Ungarn und Österreich symbolisch für drei Stunden geöffnet. Tausende Menschen spazieren zwischen den beiden Ländern hin und her, Hunderte DDR-Bürger und -Bürgerinnen nutzen die Chance zum "Rübermachen" - quasi eine erste Massenflucht.

04.09.1989 / Erste Montagsdemo: Ruf nach Reisefreiheit

Es beginnt friedlich, aber die Stimmung wird immer aggressiver. Die DDR-Regierung hat massive Polizeipräsenz angeordnet, Zivilfahnder beobachen das Geschehen. Insgesamt demonstrieren etwa 1200 Menschen an diesem Montag in Leipzig. Ihre Forderung: "Reisefreiheit statt Massenflucht". Als Polizisten den Demonstranten Transparente wegreißen, kommt es zu Rangeleien und Beschimpfungen.

Ab diesem Tag finden auch in anderen Städten - unter anderem in Dresden, Halle, Karl-Marx-Stadt, Magdeburg, Plauen, Arnstadt, Rostock, Potsdam und Schwerin - regelmäßig montags Massendemonstrationen statt, zum Teil auch an anderen Wochentagen.

10.09.1989 / Der Eiserne Vorhang fällt: Ungarn öffnet Grenze

In der Nacht vom 10. auf den 11. September öffnet Ungarn seine Grenze: Zehntausende Menschen aus der DDR nehmen in den folgenden Tagen diesen Weg in den Westen. Ein entscheidender Schritt auf dem Weg zum Fall des "Eisernen Vorhangs": Bis Monatsende reisen rund 25.000 DDR-Bürger über Ungarn aus. Die einen reißen vor Freude die Arme hoch, andere weinen stumm vor Freude. Die Tagesschau um 20 Uhr beginnt mit einer bewegenden Nahaufnahme:

30.09.1989 / Genscher in Prag: Mein glücklichster Tag

Ein Halbsatz, der Jubelschreie auslöst: Der damalige Außenminister der Bundesrepublik, Hans-Dietrich Genscher, verkündet mehr als 5000 Flüchtlingen vom Balkon der Prager-Botschaft: "Wir sind heute zu zu Ihnen gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass heute Ihre Ausreise … " Dann wird er übertönt:

Noch in der Nacht reisen die ersten Gruppen von Flüchtlingen aus, die bis dahin auf dem Gelände der Botschaft ausgeharrt hatten. Die DDR-Führung hatte darauf bestanden, dass die Züge über Dresden fahren müssen. Das sollte laut Staats- und Parteichef Erich Honecker die Souveränität seines Landes dokumentieren. Rund 20.000 DDR-Bürger wählen bis zur endgültigen Grenzöffnung Anfang November diesen Weg in die BRD.

Angst vor der chinesischen Lösung

In der DDR wächst der Protest. An der vierten Leipziger Montagsdemonstration am 2. Oktober nehmen 20.000 Menschen teil. Ihnen steht ein Großaufgebot von Polizei und Kampfgruppen gegenüber. Zum ersten Mal ist der Ruf "Wir sind das Volk!" zu hören. Die Demonstranten haben Angst vor der "chinesischen Lösung", als die Polizei in voller Montur, mit Hunden und Schlagstöcken anrückt. Sie fürchten, dass auf sie geschossen werden könnte wie im Juni auf die protestierenden Studenten auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking. Doch zu der befürchteten Eskalation kommt es nicht.

Für die westdeutschen Medien ist es schwierig, Filmmaterial von der Lage in den ostdeutschen Städten zu bekommen. Doch es gibt ostdeutsche Bürgerrechtler, die wissen, wie wichtig die Bilder sind.

09.10.1989 / Der Protest wächst: Heimliche Filmaufnahmen

Beeindruckende Menschenmassen: In Leipzig demonstrieren an diesem Montagabend rund 70.000 Menschen. Sie fordern Demokratie und Reisefreiheit. Die Lage ist immer noch angespannt. Doch es gibt Anzeichen für eine Veränderung der Haltung der DDR-Staatsführung: Demos sind möglich, in DDR-Zeitungen wird sogar darüber berichtet. Aber ausländische - und das sind zu dem Zeitpunkt auch noch westdeutsche - Journalisten sind seit Anfang September nicht mehr vor Ort.

Doch es gibt zwei mutige Reporter in Leipzig: Die Ostberliner Bürgerrechtler Siegbert Schefke und Aram Radomski filmen am 9. Oktober vom Turm der Reformierten Kirche in Leipzig die Menschenmassen und liefern dem "Westfernsehen" so die ersten Bilder von den Leipziger Montagsdemos, die in den Tagesthemen gezeigt werden:

Der Autor des Beitrags spricht in den Tagesthemen von "ausländischen Teams", die vor Ort gedreht hätten. Ulrich Schwarz, der für den "Spiegel" aus der DDR berichtete, hatte die Aufnahmen in den Westen geschmuggelt. "Schwarz hat die Kassette in seine Unterhose gesteckt und ist so nach Westberlin gefahren", erinnert sich Schefke.

Nach Ungarn erklärt auch Polen, keine DDR-Bürger mehr zurückzuschicken, wenn sie ausreisen wollen. Honecker wird aufgrund der anhaltenden Massenproteste zum Rücktritt gedrängt. Das ist am 18. Oktober. Doch das reicht der Oppositionsbewegung nicht, der Protest geht weiter. Wer kann und will, flüchtet über Ungarn, Polen und der Tschechoslowakei. Doch viele Ausreisewillige sitzen im Gefängnis.

27.10.1989 / Ein großer Schritt: Amnestie für Flüchtlinge

Im Herbst 1989 sind Hunderte Ausreisewillige wegen versuchten "ungesetzlichen Grenzübertritts" im Gefängnis - auch noch, als bereits die Sonderzüge in den Westen fahren. Bis zu zwei Jahre Freiheitsstrafe drohen, wenn jemand - so der Vorwurf - "ohne staatliche Genehmigung das Gebiet der Deutschen Demokratischen Republik verlässt".

Am 27. Oktober beschließt der DDR-Staatsrat die Amnestie für Flüchtlinge und nicht-gewalttätige Demonstranten.

04.11.1989 / Volk auf der Straße: Das Regime gibt nach

Die Stimmung auf der Großdemonstration in Berlin ist wie ausgewechselt: Witzige Transparente, spontaner Applaus dafür, Künstler ulken und das Publikum lacht ausgelassen. Diese Demo ist genehmigt. "Glasnost in der Deutschen Demokratischen Republik" steht auf einem Schild. Hunderttausende spazieren durch die Straßen.

Die Polizei hält sich sogar zurück, als Plakate an das Volkskammergebäude geklebt werden. Der Schriftsteller Stefan Heym hält seine berühmte Rede zum "aufrechten Gang". Die Schauspielerin Steffie Spira fordert, dass ihre Nachkommen ohne Fahnenappell und Staatsbürgerkunde aufwachsen sollen. Demonstranten verlangen auf Transparenten offen den Rücktritt der Regierung.

Am 8. und 9.11.1989 treten die DDR-Regierung und das SED-Politbüro zurück. Das "Neue Forum" wird zugelassen.

09.11.1989 / Der Irrtum: Ein Missverständnis öffnet die Grenzen

Politbüro-Mitglied Günter Schabowski tritt am Abend vor die Presse. Das SED-Politbüro hat zuvor Regelungen für die freie Ausreise und für Besuchsreisen beschlossen. Am nächsten Morgen sollen die neuen Bestimmungen über die Nachrichtenagentur ADN verbreitet werden.

Doch bei der Frage eines Korrespondenten, wann die neue Reiseregelung in Kraft tritt, wühlt Schabowski in seinen Unterlagen und vertut sich: "Nach meiner Kenntnis ist das sofort, unverzüglich", lautet der entscheidende Satz.

Es ist es kurz vor 19:00 Uhr. Viele Menschen in der DDR sehen die Pressekonferenz im Fernsehen.

09.11.1989 / Schlagbäume hoch: Küsschen für den Grenzposten

Als die Nachricht von der Maueröffnung von den westlichen Rundfunk- und Fernsehstationen bestätigt wird, ziehen mehrere Tausend Menschen zu den Grenzübergängen und fordern die sofortige Öffnung. Aber die Grenzsoldaten sind noch gar nicht über das neue Reisegesetz informiert. Die Situation ist brenzlig. Es scheint noch heute wie ein Wunder, dass es keine Toten und Verletzten gegeben hat.

21.20 Uhr: Unter dem Ansturm der Massen öffnen als erstes die Grenzer an der "Bornholmer Brücke" den Übergang:

10.11.1989 / Der Tag danach: Glücklicher Tagesschausprecher

Taumel, Freudenfeier, Fassungslosigkeit - es ist kaum möglich, angemessen euphorische Worte für die Stimmung zu finden, die in Deutschland nach der Nacht des Mauerfalls herrscht. Der Sprecher der Tagesschau, Jo Brauner, strahlt über das ganze Gesicht. Er selbst war 1958 aus der DDR über West-Berlin in die Bundesrepublik geflüchtet. Verwandte von ihm leben auf der anderen Seite der Mauer, die jetzt nicht mehr Familien und Freunde trennt. Dass Brauner zu Beginn der Sendung seinen Stift kurz in die Hand nimmt, soll ein Zeichen für sie gewesen sein.

10.11.1989 / Geschafft: Freudentränen und Umarmungen

Neue Freiheit in Berlin. "Wir fahren jetzt Bier trinken am Ku'damm und dann fahren wir wieder nach Hause, und das machen wir dann öfter so," sagt eine Ost-Berlinerin - ein kleines Vorhaben für sie, aber ein großer Schritt für ein Volk. Andere wollen einfach nur die Tante besuchen. "Es ist Wahnsinn! Wahnsinn!", ruft eine Passantin in die Kamera. Gut gelaunte Leute strahlen in die Kamera, meißeln Löcher in die Mauer und klettern auf ihr herum. Die Tagesthemen zeigen an diesem Abend erstmal einfach nur Menschen, die glücklich sind: