Kai Gniffke bei "Sag's mit ins Gesicht" (Foto: Wulf Rohwedder)
Interview

Interview zu "Sag's mir ins Gesicht" "Das Gespräch schafft Nähe"

Stand: 29.05.2017 12:24 Uhr

"Sag's mir ins Gesicht" - so hat die tagesschau Nutzerinnen und Nutzer aufgefordert, ihre teilweise beleidigende Kritik offen zu äußern. In den Video-Chats ging es dann aber fast immer respektvoll zu. Die Psychologin Katzer erklärt, dies sei wenig überraschend.

ARD-faktenfinder: Die ersten beiden Live-Chats der Aktion "Sag's mir ins Gesicht" verliefen fast immer sehr respektvoll. Obwohl in den Kommentaren sonst viele Beleidigungen veröffentlicht werden, blieben die Anrufer höflich. Hat Sie das überrascht?

Catarina Katzer: Nein, das überrascht mich gar nicht. Nehme ich meinen Gesprächspartner visuell und physisch wahr, entsteht psychologisch eine größere Nähe, wir werden auch direkt mit den Reaktionen auf unser Verhalten konfrontiert, sehen uns also auch aus der Sicht unseres Gegenüber. Dies führt zu kontrollierterem Verhalten, moralische Regeln sind in unserem Kopf präsenter und auch die Hemmschwelle, uns nicht konform zu verhalten, ist deutlich höher.

Zur Person

Dr. Catarina Katzer ist Volkswirtin, Soziologin und Cyberpsychologin. Sie berät Kommissionen des Europarates, des Bundestages und Regierungsinstitutionen im In- und Ausland. Ihre Spezialdisziplin ist negatives digitales Sozialverhalten ("Digitale Hasskulturen, Fake News, Cyberbullying".)

ARD-faktenfinder: Warum kommt es denn eigentlich zu Hetzexzessen im Internet?

Katzer: Die gesamte Online-Situation verändert unsere Wahrnehmung. Ich handle virtuell, handle also vor meinem Bildschirm und bin nicht in die Situation involviert. Physisch bin ich total draußen und habe deshalb eine unglaubliche Distanz zur eigentlichen Handlung. Das schafft auch eine extreme Distanz zu den Opfern. Zusätzlich gibt es eine emotionale Distanz, weil Reaktionen nicht sichtbar sind. Zum zweiten entsteht auch eine extreme Distanz zu mir. Mein gesamter sozialer Kontext wird in der Online-Situation nicht mehr sichtbar. Ich entleibe mich meiner moralischen und ethischen Verhaltensweisen, die ich normalerweise im Alltag anwende. Im Netz fällt die Selbstkontrolle weg.

ARD-faktenfinder: Bleibt der Hass im Netz?

Katzer: Die Akzeptanz des Hasses, der online stattfindet, wächst. Das ist kein gutes Zeichen. Und Hass und Hetze kann sich auf das reale Leben übertragen. Wir wissen zum Beispiel durch Untersuchungen zu (Brand)-Anschlägen auf Flüchtlingsheime: In Regionen, wo besonders gehetzt wird, passieren dann auch besonders häufig solche Dinge. Der Übertragungseffekt, von dem wir vor zehn Jahren noch dachten, dass es ihn nicht gibt, den gibt es scheinbar doch. Ich sehe eine Gefahr, dass solches Verhalten im Netz gelernt und verstärkt in den realen Alltag übertragen wird.

ARD-faktenfinder: Was kann man dagegen tun?

Katzer: Man muss die Leute im Netz damit konfrontieren und ihnen den Spiegel vorhalten.

ARD-faktenfinder: Wieso funktioniert das?

Katzer: Wenn wir uns einen Spiegel vorhalten, verhalten wir uns viel kontrollierter. Wenn zum Beispiel in einem Aufzug ein Spiegel ist, wird dort weniger randaliert als in Aufzügen ohne Spiegel. Das liegt unter anderem daran, dass die Leute sich sehen können und eine ganz starke Selbstaufmerksamkeit haben. In dem Moment, wo ich sehe, was ich tue, wird mir auch bewusst, was ich mache. Das heißt aber nicht, dass ich jeden Hater oder Gewalttäter dadurch abhalte - aber einen Teil schon.

Das Interview führte Julia Kuttner, tagesschau.de