Interview

Interview zu islamistischem Terror "Es gibt kein Muster mehr"

Stand: 05.06.2017 15:56 Uhr

Ein komplex vorbereitetes Attentat auf ein Konzert oder ein Anschlag mit einfachsten Mitteln: Den islamistischen Terrorismus zu bekämpfen, sei schwierig, so Georg Mascolo im Interview. Denn es gebe kein Muster mehr - weder bei Tätern noch Zielen.

ARD-faktenfinder: Auch wenn wir über die Londoner Attentäter noch nicht viel wissen: Die Aussagen von Premierministerin Theresa May deuten auf einen islamistischen Hintergrund hin. Dabei unterscheidet sich die Tat im Hinblick auf die Komplexität und Logistik aber erheblich vom Anschlag von Manchester. Wo sehen Sie Unterschiede oder Gemeinsamkeiten?

Georg Mascolo, ARD-Terrorismusexperte: Im Fall des Anschlages von Manchester gibt es Anzeichen, dass der Täter in direkter Verbindung zum sogenannten Islamischen Staat stand und in Libyen war. Über die Londoner Täter wissen wir noch sehr wenig: Waren sie der Polizei bekannt, hatte man ihre Gefährlichkeit falsch eingeschätzt? Wir sehen an diesen Anschlägen, dass wir auch weiter mit beidem rechnen müssen: Komplexeren Attentaten, sorgfältig vorbereitet und unter Einsatz von Waffen oder Sprengstoff. Und solche, bei denen ein Auto oder ein Messer, also einfachste Tatmittel eingesetzt werden - die aber dennoch tödlich enden.

Georg Mascolo, NDR
Zur Person

Georg Mascolo ist ARD-Terrorismusexperte. Unter seiner Leitung kooperieren die investigativen Ressorts von NDR, WDR und "Süddeutscher Zeitung" themen- und projektbezogen. Die Rechercheergebnisse, auch zu komplexen internationalen Themen, werden für Fernsehen, Hörfunk, Online und Print aufbereitet.

"Misstrauen gegen Minderheiten schüren"

ARD-faktenfinder: Auch wenn der Terrorismus auf den ersten Blick häufig sinnlos und willkürlich wirkt, so verfolgen die Attentäter in der Regel Ziele. Welche Ziele könnten dies sein?

Mascolo: Der sogenannte Islamische Staat verfolgt ein klares Ziel: Anschläge im Westen, die zu einer Überreaktion führen sollen. Der "Islamische Staat" verdankt seine Existenz einer solchen Überreaktion. Er ist ja nichts anderes, als eine Abspaltung der Al Kaida, die im Irak nach dem Einmarsch der Amerikaner - als Folge der Anschläge am 11. September 2001 - entstand. Heute ist ein Ziel des IS, Misstrauen zwischen der Mehrheitsgesellschaft in Europa und den muslimischen Minderheiten zu schüren. Aus- und abgegrenzte Muslime sollen so für die Ideologie des "Islamischen Staates" empfänglich gemacht werden.

ARD-faktenfinder: Müssen wir uns in der heißen Wahlkampfphase auch in Deutschland auf eine erhöhte Anschlagsgefahr einstellen?

Mascolo: Auf die wichtigsten Fragen gibt es derzeit keine oder wenig zufriedenstellende Antworten. Im vergangenen Jahr gehörte Deutschland, was die Zahl der Anschläge angeht, zu den am schwersten betroffenen Ländern. Die Sicherheitsbehörden waren davon überzeugt, dass sich dies 2017 fortsetzen würde. Aber nun ist seit einem halben Jahr glücklicherweise nichts passiert und niemand weiß, warum dies so ist. Es gibt ja keine zentrale Steuerung von Anschlägen durch den IS.

Aber was wir wissen, ist, dass die Terroristen jeden, der eine Tat begehen will, darin bestärken oder sogar dazu drängen. Sie haben ja ein regelrechtes Coaching-Modell geschaffen: Wer immer sich an den IS wendet, wird davon abgehalten, in ihr sogenanntes Kalifat auszureisen - sondern wird dazu angehalten, in seinem Heimatland zu morden. So war es, nach allem was man weiß, auch im Fall von Anis Amri. Ich vermute, es gibt einen Zusammenhang zwischen den sehr wenigen Ausreisen zum IS und der gestiegenen Anzahl von Anschlägen.

Täter oder Ziele: "Es gibt kein Muster mehr"

ARD-faktenfinder: Sie haben sich seit 1998 im Rahmen ihrer Recherchen immer wieder mit islamistischen Milieus und Tätern beschäftigt. Was für Schlüsse ziehen Sie aus Ihrem Einblick in die islamistische Terrorszene in Europa?

Mascolo: Dass es kein Muster mehr gibt. Erst waren es vermeintlich die Rückkehrer des IS, von denen besondere Gefahr ausgeht, dann die Einzeltäter. Inzwischen sind es auch sehr junge Menschen oder solche, die psychische Probleme haben. Jeder kann seiner persönlichen Frustration oder seiner Gewaltfantasie eine vermeintlich höherer Bedeutung verleihen, der IS wird sich nicht distanzieren.

Im vergangenen Jahr erlebten wir einen Anschlag, als ein 15-jähriges Mädchen einen Bundespolizisten im Hauptbahnhof in Hannover in den Hals stach. So etwas galt bis dahin als undenkbar. Das Muster ist, dass es kein Muster mehr gibt. Das gilt nicht nur für die potenziellen Täter - sondern auch für ihre Ziele. Eine Bar, ein Konzert, eine Brücke, ein Weihnachtsmarkt. Es macht ja keinen Unterschied. All dies macht die Bekämpfung dieser Form des Terrorismus so schwer.

Soziale Medien: "Jeder trägt Verantwortung"

ARD-faktenfinder: Die unmittelbare mediale Beschäftigung mit den Taten scheint mittlerweile einer eigenen, traurigen Routine zu folgen. Inwieweit erreichen die Terroristen durch die permanente Repräsentation ihrer Taten in Sondersendungen und Live-Berichterstattung und dem 24-Stunden-News-Stream der Sozialen Medien ihre Ziele?

Mascolo: Terroristen haben ihren Erfolg schon immer auch in der Größe der Schlagzeilen und in der Länge der Sondersendungen im Fernsehen gemessen. Es war deshalb übrigens eine britische Premierministerin, Margret Thatcher, die schon 1985 den Vorschlag machte, Journalisten sollten einfach aufhören zu berichten: Um dem Terrorismus, wie sie es sagte, den "Sauerstoff der Publizität" zu entziehen.

Überhaupt nicht zu berichten, wäre falsch. Aber ich sehe mit Sorge, dass es durch die Sozialen Medien heute beinahe so etwas wie Live-Bilder der Anschläge gibt: Man hört die Bombe in Manchester explodieren, man sieht die Menschen, die in London durch die Nacht fliehen oder sich in Todesangst unter Tischen verstecken. Solche Bilder werden ins Netz gestellt und dann auch von den klassischen Medien verwendet. Das wünschen sich die Terroristen genau so. Sie können auf maximale Wirkung hoffen, weil heute überall und immer eine Kamera dabei ist.

2005 gab es in London einen Anschlag auf die U-Bahn, innerhalb von Al Kaida soll es später daran Kritik gegeben haben: Unter der Erde gebe es keine Bilder, das mache keinen Sinn. Wie wäre es aber heute? Deshalb gilt, dass jeder, der solche Bilder aufnimmt, sich genau überlegen sollte, ob er sie posten soll und darf. Die Verantwortung, die früher allein bei uns Journalisten lag, geht heute auf jeden und jede über, die ein Smartphone besitzen.

"Der Ideologie der Dschihadisten den Boden entziehen"

ARD-faktenfinder: Die britische Premierministerin Theresa May hat nach den Londoner Anschlägen gesagt: "Genug ist genug." Sie kündigte neue Maßnahmen an. Dabei machte sie erneut das Internet und Soziale Medien mitverantwortlich für die Verbreitung radikal-islamischer Ideologie. Doch Großbritannien hat bereits mit die schärfsten Überwachungs- und Anti-Terrorgesetze in Europa. Glauben Sie, dass man islamischen Extremismus als Ideologie bekämpfen kann? Und wenn ja, wie?

Mascolo: Die Fragen, die wir uns heute stellen müssen, sind leider genau die Fragen, die wir uns auch schon vor 16 Jahren gestellt haben. Damals ging es um Al Kaida, heute geht es um den IS. Alle militärischen, polizeilichen und geheimdienstlichen Mittel werden nicht ausreichend sein. Wir müssen der Ideologie der Dschihadisten den Boden entziehen. Wir hier können mehr mit Präventionsprogrammen tun, aber entscheidender wird sein, dass die islamische Welt diesem Irrsinn entschiedener entgegen tritt.

Was das Internet angeht: Der IS ist in Syrien und im Irak unter Druck, er baut gerade sein Cyber-Kalifat massiv aus. Wir brauchen keine Gesetze, damit IS-Propaganda im Netz gelöscht wird. Facebook, Google und all die anderen tun es ja bereits. Sie müssen nur noch viel mehr tun.

Das Interview führte Andrej Reisin, NDR.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete die Tagesschau u.a. am 04.06.2017 um 20:00 Uhr.