Der LKW mit dem Anis Amri in die Menge fuhr

Anschlag am Breitscheidplatz Viele Spekulationen um Amri-Freund

Stand: 07.03.2019 14:07 Uhr

Kurz nach dem Anschlag auf den Breitscheidplatz 2016 wurde ein Freund des Attentäters Amri abgeschoben. Immer wieder ranken sich Spekulationen um Bilel Ben A.. Was ist dran an den Gerüchten?

Von Von Florian Flade, Lena Kampf und Andreas Spinrath, WDR

Am 19. Dezember 2016 steuerte Anis Amri einen Lastwagen in einen Weihnachtsmarkt auf dem Berliner Breitscheidplatz und tötete zwölf Menschen. Mehr als 70 Personen wurden verletzt.

Ein Islamist, der mit Amri in Kontakt stand, gilt als wichtiger Zeuge in dem Komplex. Doch Bilel Ben A. wurde am 1. Februar 2017 aus Deutschland abgeschoben obwohl die Ermittlungen noch andauerten. Um seine Rolle und seinen Aufenthalt ranken sich viele Spekulationen

Hat Bilel Ben A. etwas mit dem Anschlag zu tun?

Bilel Ben A. war einer der engsten Freunde von Amri. Noch am Abend vor dem Anschlag saßen die Männer beim Abendessen zusammen, am Tattag telefonierten sie wohl miteinander. Auf dem Mobiltelefon von Ben A. fanden Ermittler Fotos vom Breitscheidplatz - allerdings bereits neun Monate vor dem Attentat aufgenommen.

Laut "Focus" soll ein bislang "unter Verschluss gehaltenes Video" einer Überwachungskamera existieren. Darin soll zu sehen sein, wie Amri die Fahrerkabine des Tat-LKW verlässt und flieht. Die Aufnahme zeige zudem, so der "Focus", wie eine Person mit blauen Einweghandschuhen, bei dem es sich um Ben A. handeln soll, einen Mann mit einem Kantholz niederschlage, um Amri die Flucht zu ermöglichen.

Diese Videoaufnahme war Mitgliedern der Parlamentarischen Untersuchungsausschüsse im Bundestag sowie im Berliner Abgeordnetenhaus am Freitag nicht bekannt. Auch Berichte, wonach ein solches Video dem Parlamentarischen Kontrollgremium (PKGr) gezeigt wurde, wurden nicht bestätigt.

Es existiert jedoch die Aufnahme einer privaten Überwachungskamera, die auf dem "Europacenter" montiert war und den Breitscheidplatz aus größerer Distanz filmte. Das Video, das vom BKA ausgewertet wurde, wird allerdings nicht unter Verschluss gehalten, sondern ist Mitgliedern der Untersuchungsausschüsse zugänglich gemacht worden.

Es zeigt, wie der Lkw am Abend des 19. Dezember 2016 in die Stände des Weihnachtsmarktes rast und dann zum Stehen kommt. Die Überwachungskamera soll automatisch geschwenkt haben, ein großer Teil des unmittelbaren "Nachtat-Geschehens" soll daher nicht erkennbar sein.

LKW-Anschlag auf Berliner Weihnachtsmarkt

Zwölf Menschen starben bei dem Anschlag auf den Berliner Weihnachtsmarkt.

Das BKA hatte außerdem kurz nach dem Anschlag eine Fotoaufnahme erhalten, die einen jungen Mann mit blauen Handschuhen zeigt. Das Bild soll am Tatabend aufgenommen worden sein, allerdings zwischen 21:31 Uhr und 21:33 Uhr - also rund eineinhalb Stunden nach dem Attentat. Die Person, so notierte das BKA, sei durch weitere Ermittlungen "nicht als Ben A. identifiziert" worden. Es sei zudem nicht klar, ob sich Ben A. am Abend des Anschlags überhaupt auf dem Breitscheidplatz aufgehalten habe. Im Gegenteil legt ein Selfie wohl den Schluss nahe, dass sich der Extremist zum Tatzeitpunkt in seiner Flüchtlingsunterkunft in Berlin-Spandau aufgehalten habe.

Es wurden mehrere Fotos auf einem Mobiltelefon von A. festgestellt, die den Weihnachtsmarkt nach dem Attentat zeigen. Ben A. gab in Vernehmungen durch das BKA an, die Aufnahmen habe er nicht selbst gemacht, sondern sie seien ihm geschickt worden. Das zuständige Fachreferat im BKA stellte fest, dass die Fotos "im Internet im Zusammenhang mit Pressemitteilungen und bei sozialen Netzwerken wie Twitter oder Facebook zu finden" seien. Ben A. habe sie per Facebook geschickt bekommen und wohl tatsächlich nicht selbst gemacht.

Eine Tatbeteiligung von Ben A. ist bislang also nicht bewiesen.

Ist Ben A. in Tunesien?

Nach Recherchen von WDR, NDR und "Süddeutscher Zeitung" wurde Bilel Ben A. direkt nach der Abschiebung in Tunesien in Gewahrsam gekommen. Er soll vom tunesischen Innenministerium als "gefährliche Person" eingestuft worden sein. Gegen Ben A. sollen außerdem drei Vorwürfe im Zusammenhang mit Terrorismus und der Vorwurf eines Raubüberfalls vorliegen.

Am 17. Juli 2017 wurde der Amri-Freund von einem tunesischen Gericht wegen der Terrorismusvorwürfe freigesprochen. Allerdings soll die nächsthöhere Instanz entschieden haben, den Fall erneut aufzurollen. Ben A. blieb demnach in Haft.

In der vergangenen Woche teilte Bundesinnenminister Horst Seehofer mit, dass seinem Ministerium der aktuelle Aufenthaltsort von Bilel Ben A. nicht bekannt sei. Deutsche Sicherheitsbehörden wurden in den vergangenen Jahren jedoch mehrfach von tunesischen Behörden über das Schicksal des abgeschobenen Amri-Freundes informiert. Das geht aus der Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage von Linken-Politikerin Martina Renner hervor.

Wurde ein möglicher Helfer von Anis Amri voreilig abgeschoben?

Julia Krittian, ARD Berlin, tagesschau 16:00 Uhr

Im März 2017 erhielt der BKA-Verbindungsbeamte in Tunis demnach die schriftliche Mitteilung, Ben A. sei "in Polizeigewahrsam (Ort unbekannt)". Im September 2017 folgte eine mündliche Mitteilung, Ben A. "sei auf freiem Fuß". Ebenfalls mündlich teilte ein tunesischer Ermittlungsrichter der Anti-Terror-Staatsanwaltschaft dem BKA im Juli 2018 mit, Ben A. sei "unter Meldeauflagen auf freiem Fuß in Tunesien (ohne Nennung des konkreten Aufenthaltsortes)" und habe keinen Reisepass.

Aktuellere Informationen zum Verbleib von Bilel Ben A. sollen den hiesigen Behörden bis heute nicht vorliegen. Aus Sicherheitskreisen heißt es, im Frühjahr 2018 habe es neue Erkenntnisse gegeben, dass Ben A. zu einer achtjährigen Haftstrafe verurteilt worden sei. Gesichert aber seien diese Informationen nicht.

Ist Ben A. ein Agent des marokkanischen Geheimdienstes?

Stichhaltige Belege für solche Annahmen gibt es nicht. Der "Focus" schreibt von "geheimen Ermittlungsdokumenten". Zum marokkanischen Nachrichtentendienst DGST gibt es tatsächlich geheime Dokumente mit Bezug zu Amri. Im September und Oktober 2016 schickten die Marokkaner Warnungen an ihre deutschen Kollegen. Darin hieß es, ein Tunesier namens Anis Amri sei als "Islamonaut" unterwegs. Gemeint ist mit diesem Begriff ein "Cyberdschihadist". Er plane in Deutschland ein "Projekt" und nenne Deutschland ein "Land des Unglaubens". Dem Schreiben beigefügt waren auch Fotos, die Amri und andere Islamisten in Berlin zeigten.

Belegt das aber, dass Marokko den "Islamonauten" Amri aus nächster Nähe bespitzeln ließ - durch Bilel Ben A., wie es nun Medien nahelegen? Die Marokkaner selbst schrieben, man sei durch "die Verfolgung der aktiven Anhänger des radikalen Islamismus im Internet" auf das Netzwerk und die Fotos gestoßen. Tatsächlich fanden sich viele der Bilder aus dem marokkanischen Dossier offen auf Facebook-Seiten von Amris Freunden. Sie waren allerdings auch im Mobiltelefon des Terroristen gespeichert.

Innenminister Seehofer sagte am vergangenen Freitag: "Weder dem Bundesamt für Verfassungsschutz, dem Bundesnachrichtendienst oder dem Bundeskriminalamt liegen Erkenntnisse vor, dass Ben A. für oder mit einem marokkanischen Nachrichtendienst in irgendeiner Form arbeitete."

War Ben A. beim Terroranschlag von Nizza vor Ort?

Es existiert der Screenshot eines Flugtickets von Berlin nach Nizza für den 7. Juli 2016, das auf dem Mobiltelefon von Bilel Ben A. sichergestellt wurde. Allerdings gibt es keine Hinweise darauf, dass er am Anschlagstag, dem 14. Juli 2016, wirklich vor Ort war.

Es gibt hingegen Handyfotos, die Ben A. in den Tagen rund um das Nizza-Attentat in Paris zeigen sollen.

Kann Ben A. in Tunesien befragt werden?

Grundsätzlich ja, dafür bedarf es der Zustimmung tunesischer Behörden. So könnte Ben A. beispielsweise per Videokonferenz oder durch Mitglieder des Untersuchungsausschusses in der Deutschen Botschaft in Tunis vernommen werden.

Auch der Vorsitzende des Untersuchungsausschusses im Bundestag, Armin Schuster, sieht Aufklärungsbedarf: "Die Causa Ben A. darf nicht dazu führen, dass Behördenhandeln zu Verschwörungstheorien und staatlicher Vertuschung umgedeutet wird", so der CDU-Politiker. "Im Sinne der Aufklärung ist es deshalb wünschenswert, dass der Untersuchungsausschuss Ben A. als Zeugen vernehmen kann."