Pro & Contra Vom Unbehagen über die EU-Verfassung

Stand: 09.05.2006 06:36 Uhr

Die Kritik an der EU-Verfassung geht quer durch die politischen Lager. Sie richtet sich vor allem gegen den Kompetenz-Zuwachs für Brüssel und die beschränkte Macht der nationalen Parlamente. Die Linke bemängelt außerdem, die Verfassung schreibe eine neoliberalen Wirtschaftspolitik fest und militarisiere die Außenpolitik.

Von Britta Scholtys und Eckart Aretz, tagesschau.de

Der Text macht es einem nicht leicht: 448 Artikel umfasst die erste Verfassung der EU. Was in einem mehrjährigen Prozess von Vertretern der nationalen Parlamente, Regierungen und der Kommission erarbeitet wurde, durchschauen nur wenige Bürger. Viele Menschen fühlen sich nicht ausreichend informiert.

Die Argumente der Verfassungsgegner reichen von der Kritik an der Festschreibung einer "neoliberalen Wirtschaftspolitik" über den Vorwurf einer Militarisierung der EU-Außenpolitik bis zur Angst vor einer Schwächung der nationalen Parlamente.

Schwindender Einfluss der Parlamente?

Bundestag und Bundesrat haben das Verfassungswerk hierzulande zwar ratifiziert, heftig diskutiert wurde - und wird - es aber trotzdem. Ein Teil der Unions-Fraktion etwa beklagt, dass das Papier Brüssel noch mehr Kompetenzen zuordne. Zugleich, so der CSU-Abgeordnete Gerd Müller gegenüber tagesschau.de, werde die europäische Gesetzgebung entparlamentarisiert. Der Bundestag sei nicht mehr als Gesetzgeber tätig, während das Europaparlament nicht das Recht zur Gesetzesinitiative habe.

Dies sieht die Linke ähnlich: In einem von 118 Intellektuellen unterschriebenem Aufruf der globalisierungskritischen Bewegung Attac heißt es, „das parlamentarische Grundrecht auf eigene Gesetzesinitiativen bleibt den Abgeordneten weiterhin vorenthalten“. Auch habe das Europaparlament, dessen Abgeordnete von den EU-Bürgern gewählt werden, kein Entscheidungsrecht in der Außen- und Sicherheitspolitik. In vielen Bereichen hätten die Parlamentarier lediglich Anhörungsrecht.

Die Unterstützer der Verfassung setzen gegen diese Kritik, dass das Parlament künftig bei rund 80 Prozent der EU-Gesetze ein Veto-Recht besitzt und gemeinsam mit dem Ministerrat als Gesetzgeber tätig sein soll - falls die Verfassung doch noch durchkommt.

Verfassungsrang für neoliberale Wirtschaftspolitik?

Insbesondere die Linke lehnt die im dritten Teil des Verfassungsentwurfs festgelegte wirtschaftspolitische Ausrichtung ab. Dort wird der „Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb“ formuliert. Damit, so die Kritik, erhielten neoliberale Bestimmungen Verfassungsrang. Laut Artikel III-179 kann die Kommission eine Stellungnahme direkt an einen Mitgliedstaat richten, dessen Wirtschaftspolitik nicht diesen festgelegten Grundzügen entspricht. Die Beschäftigungs- und Sozialpolitik würde dann, so die Befürchtung der Verfassungsgegner, den wirtschafspolitischen Grundzügen untergeordnet.

Befürworter der EU-Verfassung verweisen auf die Grundrechte-Charta und den Artikel I-3, in dem sich die Union das Ziel der „Vollbeschäftigung“ setzt. Gegner wie Unterzeichner des Attac-Aufrufs warnen dagegen vor einer „einseitigen Orientierung auf das vorrangige Ziel der Preisstabilität“ und den „in Verfassungsrang erhobenen Stabilitätspakt“.

Militarisierung der Außenpolitik?

Der Verfassungstext präzisiert zudem die Verteidigungspolitik, deren gemeinsame Entwicklung zwar auch bislang möglich war, nun aber in der Verfahrensweise konkreter geregelt wird. In der Kritik steht hier vor allem die programmatische Aufforderung der Mitgliedstaaten, „ihre militärischen Fähigkeiten zu verbessern“ (Artikel I-40). Dies sei, so der PDS-Europaabgeordnete Tobias Pflüger, “nichts anderes als eine Aufrüstungsverpflichtung“, mit dem Ziel, die EU als militärisches Gegengewicht zu den USA aufzubauen.

Dem Vorwurf der Militarisierung und der Sorge vor einer europaweiten Aufrüstung halten die Verfassungsbefürworter Artikel I-41 entgegen: Darin wird klargestellt, dass die EU ihre zivilen oder militärischen Operationen nur „in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Charta der Vereinten Nationen“ tätigen darf. Die Selbstverpflichtung der EU, entsprechend dem UN-Gebot auf eine „mit den Zielen der Vereinten Nationen unvereinbare Androhung oder Anwendung von Gewalt“ zu verzichten, erhält damit Verfassungsrang. Zudem, so die Verfassungsverfechter, erhalte der Ausbau von zivilen Konfliktlösungen durch die Aufnahme der zivilen Option in den Verfassungstext eine wichtig Grundlage.

Allerdings verpflichten sich die EU-Staaten im Verfassungstext auch zu „Kampfeinsätzen als Unterstützung für Drittstaaten bei der Bekämpfung des Terrorismus in ihrem Hoheitsgebiet“ (Artikel III-210). Dem wiederum halten die Befürworter Artikel III-309 entgegen. Der beschreibt die Aufgaben von zivilen und militärischen Einsätzen als „gemeinsame Abrüstungsmaßnahmen, humanitäre Aufgaben und Rettungseinsätze, Aufgaben der militärischen Beratung und Unterstützung, Aufgaben der Konfliktverhütung und der Erhaltung des Friedens sowie Kampfeinsätze im Rahmen der Krisenbewältigung“.