Cumhuriyet-Chefredakteur Can Dündar
interview

"Cumhuriyet"-Chefredakteur Dündar im Gespräch "EU-Türkei-Deal hilft der Demokratie nicht"

Stand: 15.06.2016 19:33 Uhr

Der regierungskritische türkische Journalist Dündar hat das Abkommen zwischen der EU und der Türkei als "beschämend" bezeichnet. Der Deal helfe der Demokratie überhaupt nicht, sagte er im Interview mit tagesschau.de. Die EU müsse vielmehr die "europäische Türkei" unterstützen.

tagesschau.de: Wie geht es Ihnen momentan in der Türkei?

Can Dündar: In der Türkei Journalist zu sein, ist heutzutage nicht einfach. Da wir ein Oppositionsblatt sind, und jede Art von Kritik von der Regierung als Bedrohung angesehen wird, ist es noch schwieriger. Unsere Redaktion wird momentan von der Polizei umstellt, um uns zu schützen - ich weiß allerdings nicht wovor. Seit dem Angriff habe ich fünf Bodyguards. Wie schon gesagt: Momentan ist Journalist kein einfacher Beruf.

tagesschau.de: Wie ist generell die Situation für Journalisten in der Türkei?

Dündar: 35 Journalisten sind in der Türkei derzeit im Gefängnis, das ist eine ernst zu nehmende Zahl. Das einzige, was sie getan haben, ist zu schreiben und etwas gegen die Regierung und die Politik zu sagen. Leider nutzt die Regierung die Anti-Terror-Gesetze gegen sie und bezeichnet sie als Terroristen. Doch das sind alles keine Terroristen. Das sind Journalisten, die ihren Beruf ausüben. Und deswegen ist das Anti-Terror-Gesetz auch so wichtig für Erdogan, damit er frei regieren kann.

Cumhuriyet Chefredakteur Dündar
Zur Person

Can Dündar ist der Chefredakteur der regierungskritischen türkischen Zeitung "Cumhuriyet". Im Mai wurde er zu fünf Jahren und zehn Monaten Haft verurteilt. Er hatte geheime Dokumente veröffentlicht, die zeigen sollten, dass die türkische Regierung Waffen an Islamisten in Syrien geliefert habe. Bei einem Besuch in Brüssel forderte er von der EU klare Worte gegen die Einschränkung der Meinungsfreiheit in der Türkei.

tagesschau.de: Sie sagten in Ihrer Pressekonferenz, die Türkei sei eine Hölle für Journalisten. Was meinen Sie damit konkret?

Dündar: Wir haben eine Art Zensur. Die Regierung versucht, den Nachrichtenfluss zu blockieren. Wenn etwa eine Bombe explodiert, dann schicken sie Nachrichten an die Presseorgane, dass es verboten sei, darüber zu berichten. Ein weiterer Punkt ist die Selbstzensur, die Angst der Presse, etwas zu schreiben oder zu sagen. Zudem wurden die meisten Presseorgane von regierungsfreundlichen Geschäftsmännern gekauft, so dass es nur wenig unabhängige Presse gibt.

tagesschau.de: Wird sich Ihrer Meinung nach durch den EU-Türkei-Deal die Lage verbessern?

Dündar: (Lacht.) Das wollen sie uns glauben machen, aber das stimmt nicht. So einfach ist das nicht, denn in den Verhandlungen geht es nicht um Pressefreiheit, sondern allein um Flüchtlinge und Visaliberalisierung. Ich verstehe aber nicht, wen die Visafreiheit kümmert, wenn das Land nicht frei ist.

tagesschau.de: Warum sind die Anti-Terror-Gesetze so eine Bedrohung für Journalisten in der Türkei?

Dündar: Ich bin einer der Journalisten, denen vorgeworfen wird, ein Terrorist zu sein, und das allein wegen eines Beitrags in meiner Zeitung. Als Journalist einen Bericht zu schreiben, reicht der Regierung aus, um als Terrorist zu bezeichnet zu werden. Deswegen ist dieses Gesetz so wichtig für die Regierung und eine Änderung des Gesetzes so notwendig für unseren Schutz. Da Präsident Erdogan das Gesetz gegen seine Widersacher einsetzt, will er es nicht ändern. Deswegen stockt der EU-Türkei-Deal jetzt in diesem Punkt. Ich hoffe, sie werden das Gesetz ändern, doch Erdogan wird andere Wege finden, um die Presse zu unterdrücken.

"Das Abkommen hilft der Demokratie überhaupt nicht"

tagesschau.de: Was halten Sie persönlich vom EU-Türkei Deal?

Dündar: Ich nenne es ein beschämendes Abkommen, da die EU mit seiner Hilfe für Flüchtlinge Boden in der Türkei erworben hat, der Türkei Geld (für die Flüchtlinge) gibt und der Türkei Visaliberalisierung versprach, doch das hilft der türkischen Demokratie überhaupt nicht. Eigentlich muss die EU diese Flüchtlinge akzeptieren, denn sie sind die Folge des syrischen Bürgerkriegs, der von der Türkei und anderen europäischen Staaten geduldet wurde. Es ist die Pflicht und Verantwortung diese Flüchtlinge aufzunehmen, aber die EU hat sich dazu entschieden, sie in der Türkei festzuhalten. Das hilft weder der Situation in Syrien noch der Demokratie in der Türkei noch der freiheitlichen Position der EU. Deswegen nenne ich es ein beschämendes Abkommen.

tagesschau.de: Was müssen die Staats- und Regierungschefs der EU Ihrer Meinung nach tun, um das Abkommen zu verbessern?

Dündar: Sie müssen die Türkei dazu zwingen, demokratischer zu werden. Wir brauchen die Hilfe und Solidarität Europas für unseren Kampf gegen die Unterdrückung, aber die Aufnahme von drei Millionen Flüchtlingen durch die Türkei ist eben auch sehr wichtig für Europa. Das Abkommen sollte zur Demokratisierung der Türkei führen und Europa hinsichtlich der Flüchtlinge zur Verantwortung ziehen.

tagesschau.de: Das Bild der Türkei ist momentan sehr schlecht. Gibt es nur diese eine Türkei?

Dündar: Europa sollte wissen, dass es eine andere Türkei neben Erdogan und seinen Kollegen gibt. Klar, er ist ein starker Führer mit Rückendeckung in der Türkei, aber es gibt noch einen anderen Teil, der eine andere Türkei repräsentiert. Diesem Teil sind Demokratie, Menschenrechte, die Trennung von Staat und Kirche sowie Gleichberechtigung sehr wichtig. Das ist die europäische Türkei, und Europa muss sie unterstützen, sonst wird die andere Türkei siegen - und das wäre ein Verlust nicht nur für die Türkei, sondern auch für Europa. 

Das Interview führte Olga Chládková, ARD-Studio Brüssel für tagesschau.de