Regierungstruppen in Ost-Aleppo
Interview

Lage in Aleppo "Der Deal von Dienstagabend ist tot"

Stand: 14.12.2016 17:35 Uhr

Nach der Aufgabe der Rebellen im Osten von Aleppo sollte die Evakuierung beginnen. Doch es gibt neue Kämpfe und neue Forderungen der Kriegsparteien. ARD-Korrespondent Carsten Kühntopp über konkurrierende Interessen, hilflose Vereinte Nationen und einen schwachen syrischen Machthaber.

tagesschau.de: Am Dienstag haben sich die syrische Armee und die Rebellen auf eine Waffenruhe geeinigt. Nun wurden die Kämpfe wieder aufgenommen. Warum kommt Aleppo nicht zur Ruhe?

Carsten Kühntopp: Es gibt widersprüchliche Berichte, warum diese Feuerpause, dieser ganze Deal kollabiert ist. Zum einen ist zu hören, dass die syrische Regierung gar nicht im Boot gewesen und es nur eine Vereinbarung zwischen den Rebellen und Russland gegeben haben soll. Damaskus fühlte sich düpiert und wollte zeigen, dass Syrien ein souveräner Staat ist, der selbst entscheidet. Und dann gibt es andere Berichte, wonach iranische Milizionäre nicht mitgemacht haben sollen. Angeblich soll der Iran weitere Bedingungen gestellt haben, bevor man einer Feuerpause zustimmt. Letztlich wissen wir nicht, warum der Deal gescheitert ist.

tagesschau.de: Es heißt, dass vor allem der Iran einen großen Teil dazu beigetragen hat, dass die Feuerpause gebrochen wurde. Welche Agenda hat der Iran?

Kühntopp: Wenn es stimmt, dass der Iran tatsächlich die Kraft ist, die diesen Deal hintertrieben hat, dass die iranischen Milizionäre bei der Feuerpause nicht mitmachen, dann könnte dahinterstecken, dass der Iran die Bedingung aufgestellt hat, dass unter anderem iranische Geiseln, die offenbar in der Provinz Idlib von bewaffneten Aufständischen gefangen gehalten werden, freikommen und dass die Leichen iranischer Kämpfer aus Ost-Aleppo übergeben werden müssen.

Zivilisten in Aleppo versuchen, Säuglinge in Sicherheit zu bringen.

Katastrophale Lage: Zivilisten in Aleppo versuchen, Kinder in Sicherheit zu bringen.

Für die Rebellen ist Aleppo seit Tagen verloren

tagesschau.de: Und warum könnte Russland bei einem Deal mit den Rebellen vorgeprescht sein, ohne dies mit dem syrischen Regime abgestimmt zu haben?

Kühntopp: Ich könnte mir vorstellen, dass die Russen schlicht das Interesse gehabt haben, die Situation in Aleppo zu beenden. Militärisch ist die Lage zugunsten des russischen Verbündeten, des syrischen Regime ausgegangen und jetzt ist es für die Russen sinnlos zuzusehen, wie in den nächsten Tagen und Wochen Hunderte oder Tausende Zivilisten bei völlig sinnlosen Kämpfen sterben. Denn militärisch ist Ost-Aleppo für die Rebellen bereits seit Tagen verloren. Gestern Abend bekamen wir Berichte, wonach die Russen verkündeten, sie hätten im Namen der syrischen Regierung diesen Deal gemacht. Und es gibt noch die Türkei, die ja einige Gruppen unter den Rebellen in Ost-Aleppo hat, die sie unterstützt. Diese beiden Kräfte kamen wohl zusammen und haben den Deal ausgehandelt, um die Situation in Aleppo zu beenden.

tagesschau.de: Ist dieser Deal nun endgültig geplatzt?

Kühntopp: Zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist der Deal von gestern Abend tot. Bereits gestern Abend fuhren Busse vor, mit denen Menschen weggebracht werden sollten - interessant ist natürlich, wenn Busse aufgefahren werden. Denn das bedeutet eigentlich, dass die syrische Regierung mit im Boot gewesen ist - diese Busse standen die ganze Nacht bereit. Eine syrische Militärquelle sagte gestern Nacht, die Evakuierungen sollten um 5 Uhr Ortszeit beginnen. Mittlerweile haben sämtliche Busse den Rückwärtsgang eingelegt und sind in ihre Depots zurückgefahren.

Ein Bus der syrischen Regierung zur Evakuierung von Zivilisten in Ost-Aleppo.

Ein Bus der syrischen Regierung zur Evakuierung von Zivilisten in Ost-Aleppo. Eingestiegen ist niemand.

Große Sorge über das Schicksal der Zivilisten

tagesschau.de: Die Vereinten Nationen berichten, dass in Aleppo mindestens 82 Zivilisten von syrischen Truppen getötet sein sollen. Ist noch Schlimmeres zu befürchten?

Kühntopp: Die UN haben diese Informationen nicht selber gesammelt, ihnen liegen nur entsprechende Berichte vor. Es wurden also Informationen und Berichte gesammelt, die die UN bislang nicht verifizieren konnten, weil die syrische Regierung die UN nicht in die Stadt lässt. Aber die Berichte sind da. Der Sprecher der UN, Rupert Colville, bezeichnete sie gestern erneut als zuverlässig. Und bereits letzte Woche berichteten die UN, dass mehrere Hundert Männer, welche die Rebellenenklave Ost-Aleppo verlassen hatten und in den Westen der Stadt gegangen waren, spurlos verschwunden seien. Das waren alles Männer unter 50 Jahre, also im kampffähigen Alter.

Nun ist die Sorge groß, dass diese Menschen entweder willkürlich in Haft genommen wurden, oder dass sie gefoltert werden - auch hier war es Colville, der den Bericht vorgelegt hat. In diesem Zusammenhang erinnerte er auch an die Vorgeschichte der syrischen Regierung. Eine Vorgeschichte von Folter, willkürlicher Haft und von dem Verschwindenlassen von Menschen. Und angesichts dessen ist man berechtigterweise in größter Sorge, was das Schicksal der Zivilisten angeht, die sich jetzt noch in Ost-Aleppo befinden.

tagesschau.de: Auch derer, die heute eigentlich evakuiert werden sollten? 

Kühntopp: Richtig. Der gestern vereinbarte Waffenstillstand war nicht mit den Vereinten Nationen als Partner geschlossen worden. Die UN wären natürlich gerne Partner. Dann könnten sie beobachten, was mit den Zivilisten passiert wäre, die Ost-Aleppo in diesen Bussen verlassen hätten. Aber es war nicht vorgesehen, dass die UN reingeholt werden, um diese Beobachterrolle wahrzunehmen.

Die UN kann nichts machen

tagesschau.de: Hat die UN in Syrien versagt?

Kühntopp: Die UN als Organisation kann nur das tun, was ihnen die Mitgliedsstaaten erlauben und da haben wir nun mal einen illustren Kreis von Veto-Mächten, im konkreten Fall Russland. Seit Beginn dieses Krieges hat Russland sechsmal an verschiedener Stelle ein Veto eingelegt und hält damit weiterhin seine schützende Hand über die syrische Regierung. Und deshalb kann die UN letztlich nichts machen. Der Vorwurf, dass die UN versagt hat, ist meiner Meinung nach also nicht richtig. Das System, wie die UN funktioniert, besteht nun mal darin, dass es Veto-Mächte gibt, die mehr zu sagen haben, als andere Staaten. Damit müssen wir umgehen.

Idlib - eine der letzten Rebellenhochburgen

tagesschau.de: Zurück zur Situation in Aleppo: Es heißt, dass viele Kämpfer wohl in die Region von Idlib gehen werden, wenn sie die Stadt verlassen können. Warum Idlib?

Kühntopp: Die Provinz Idlib im Nordwesten Syriens ist fast vollständig in der Hand von Rebellen. In den vergangenen Monaten war es bereits häufig so, dass die syrische Regierung mit Rebellen die eine Stadt oder einen Ortsteil aufgegeben haben, örtliche Deals gemacht hat. Teil dieser Vereinbarungen war oftmals, dass sie nach Idlib gehen. Idlib wird sicher einer der nächsten ganz fürchterlichen Schauplätze in diesem Krieg werden. Bereits jetzt ist es so, dass Idlib immer wieder aus der Luft angegriffen wird. Das Kalkül der syrischen Regierung ist sicherlich, dass man die Rebellen dort eingrenzt und sich später mit ihnen befasst.  

tagesschau.de: Aber ist Idlib dann für die Rebellen nicht eine Sackgasse? 

Kühntopp: Na ja, wenn man in Idlib ist, dann ist man schneller an Teilen der syrisch-türkischen Grenze, wo auch Rebellen präsent sind. Es gab auch mal die Idee, dass Rebellen und Zivilisten in einen anderen Teil der Provinz Aleppo gehen, westlich der Stadt. Die Bewaffneten und Zivilisten kriegt man nicht aus Ost-Aleppo raus, indem man sie dazu auffordert in die Gebiete zu gehen, die von der Regierung kontrolliert werden. Das funktioniert aus naheliegenden Gründen nicht.

Aleppo - ein symbolisch wichtiger Sieg

tagesschau.de: Wie geht es mit Syrien weiter?

Kühntopp: Der Fall von Aleppo ist sicherlich wichtig für Präsident Bashar al-Assad, da er mit Aleppo wieder alle großen Bevölkerungszentren Syriens in seiner Hand hat. Aber Aleppo ist mehr oder minder zerstört. Auch der Westen der Stadt hat sehr gelitten, da die Rebellen aus dem Ostteil immer wieder gnadenlos und völlig ungezielt den Westen Aleppos beschossen haben und sich nicht darum scherten, ob es militärische oder zivile Ziele sind. Somit ist der Westteil schwer beschädigt und der Osten komplett zerstört.

Aleppo war einst die große Wirtschaftsmetropele Syriens. Diese Rolle hat die Stadt verloren. Assad scheint Aleppo zwar wieder zu kontrollieren, doch mit diesem Sieg kann er nicht sehr viel anfangen. Auf der anderen Seite ist es symbolisch wichtig, dass wieder alle vier großen Städte in Assads Hand sind. Der Bürgerkrieg findet fortan ausschließlich in kleineren Städten und auf dem Land statt.

tagesschau.de: Wie stark ist Assad noch?

Kühntopp: Ich glaube, er ist nicht so stark, wie er scheint. Dieser vorläufige Sieg in Aleppo war nur möglich, weil Russland, der Iran und iranische Milizionäre und die Hisbollah aus dem Libanon ihn militärisch unterstützt haben. Ohne diese Partner hätte er es nicht geschafft. Ein gutes Beispiel dafür ist Palmyra: Die Wüstenstadt wurde durch die Bombardements der russischen Luftwaffe aus den Händen der Terrormiliz "Islamischer Staat" befreit. Anschließend veranstaltete Russland ein Konzert und inszenierte groß den Sieg über den IS.

Nun hat der IS am vergangenen Wochenende Palmyra nach nur wenigen Tagen plötzlich wieder eingenommen. Die syrische Regierungsarmee war anderweitig beschäftigt - nämlich in Aleppo - und auf einmal war für den IS wieder einiges möglich. Selbst militärisches Gerät konnten die Kämpfer dort offenbar erbeuten. Es ist die Rede von bis zu 30 Panzern. Von der syrischen Armee wurden also funktionsfähige Panzer und gepanzerte Fahrzeuge zurückgelassen. Das zeigt, wie ausgelaugt die syrische Armee ist. Ohne die Unterstützung seiner ausländischen Gönner wäre in den letzten Monaten für Assad vieles nicht mehr möglich gewesen.

tagesschau.de: Hat Assad auf die Dauer eine Chance, sich weiter an die Macht zu halten?

Kühntopp: Ich glaube nicht. Was ist denn noch seine Machtbasis? Traditionell stützt er sich ja vor allem auf die Mitglieder seiner Religionsgemeinschaft, auf die Alawiten, das ist eine kleine Minderheit in Syrien. Er wurde vor dem Krieg auch gestützt von der Handelsklasse, also von den Geschäftsleuten in Damaskus. Und er wurde von Angehörigen religiöser Minderheiten gestützt. Aber Syrien ist ein mehrheitlich sunnitisches Land. Der Aufstand ist ein mehrheitlich sunnitischer. Und nach all den Gräueltaten in den letzten Jahren - wir reden ja über mutmaßlich mehr als 400.000 Tote - ist es schwer vorstellbar, dass dieses Land zum Frieden kommt und sich die Menschen unter Assad wieder die Hand reichen. Versöhnung ist derzeit schwer vorstellbar.

Das Interview führte Karolin Wulf, tagesschau.de

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete Deutschlandfunk am 14. Dezember 2016 um 18:12 Uhr.