Ein Mann steht in Paris mit erhobenen Armen in einer Menge, die gegen die Rentenreform protestiert

Französische Rentenreform "Das war der Ungerechtigkeit zu viel!"

Stand: 20.03.2023 05:13 Uhr

Die Proteste gegen die Rentenreform in Frankreich gingen auch am Wochenende weiter. Heute soll sich entscheiden, ob die Reform am Parlament vorbei angenommen wird. Aber würde das den Widerstand brechen?

Auch an diesem Wochenende wurde die Müllverbrennungsanlage in Issy-les-Moulineaux, am südwestlichen Pariser Stadtrand, blockiert und bestreikt.

Ein junger Mann, Vollbart, Holzfällerhemd, Docker-Mütze begründet ruhig, aber entschlossen: "Was mir Sorgen macht, ist die Ungerechtigkeit dieser Reform. Auch beim Timing: Wir haben gerade eine Kaufkraftkrise. Und die Leute haben Hunger. Man stiehlt ihre Zeit, ihre Ferien mit den Kids, letztlich ihr Leben. Dabei gibt es überall was zu sparen. Die Steuerflucht in Frankreich - das sind 100 Milliarden Euro im Jahr! Holt erst die 100 Milliarden und macht euch dann an die Renten!"

Proteste im ganzen Land

Die Reform von Präsident Emmanuel Macron wird nach teuren Zugeständnissen nur noch zwölf statt ursprünglich geplanten 18 Milliarden Euro im Jahr einbringen. Aber sie bringt Menschen auf die Barrikaden.

In Paris gilt ein Demoverbot für den Concorde-Platz, die Protestierenden stürmten deshalb Einkaufszentren etwa im Hallenviertel. Dazu der Müllstreik und über 10.000 Tonnen Abfälle auf den Bürgersteigen. Ein Drittel weniger Flüge am Flughafen Paris-Orly. Auf den Bahnhöfen des Landes fahren weniger Regionalzüge, weniger TGVs.

In Lyon wurde in einem Bezirksrathaus Feuer gelegt. In der größten französischen Raffinerie in der Normandie steht die Produktion still. An den Tankstellen im Rhônetal bilden sich Schlangen.

Die Wut über Artikel 49.3

Stein des Anstoßes ist nicht nur die Reform selbst, sondern der Artikel 49.3 der Verfassung. Den hat die Regierung angewandt, sodass der Text ohne Abstimmung durch das Parlament gehen kann, sofern die Regierung Misstrauensvoten übersteht.

Parlamentschefin Yael Braun-Pivet findet nicht, dass das Vorgehen der Regierung einer Niederlage gleiche. Man habe bei der Rentenreform keinen Konsens gefunden - für solche Fälle sei der Artikel da, den es seit der Zeit von General de Gaulle gebe. "Er wurde ausgedacht gegen politische Blockadehaltungen und für den Fall einer relativen Mehrheit. Genau das haben wir gerade. Er wurde 100 Mal angewandt von allen politischen Kräften rechts und links. Und obwohl unsere Verfassung seitdem 24 Mal verändert worden ist, hat niemand an diesem Artikel gerüttelt."

Abweichler bei den Républicains

Vielleicht weil noch keine Regierung darüber zu Fall kam. Doch die Gemüter erhitzt er. In Nizza wurden Fensterscheiben eines Abgeordnetenbüros eingeschlagen und an die Fassade ein Galgen geschmiert sowie die Worte: "Misstrauensvotum oder Pflasterstein!"

Betroffen war davon nicht irgendwer, sondern der Parteichef der konservativen Les Républicains, Eric Ciotti. Er hatte erklärt, seine Partei werde der Regierung nicht das Misstrauen aussprechen. Doch es gibt Abweichler wie Pierre Cordier, der am Wochenende nochmal in seinen Wahlkreis in die Ardennen fuhr. Er will sich nicht an die Parteilinie halten.

"Ich bin sehr wohl für eine Rentenreform, aber nicht für diese. Es hat viele Änderungen am Text gegeben, auch positive. Aber bei anderen Punkten, wie der Berücksichtigung von Arbeitserschwernissen, gibt es Luft nach oben. Und deshalb sagen die Leute hier zu mir: Herr Abgeordneter, halten Sie stand!"

Die Gegner brauchen 287 Stimmen

Nur wenn es ihm 26 weitere Konservative, also knapp die Hälfte der Républicains, gleichtun und die gesamte Opposition unisono mit Ja stimmt, könnte eines der Misstrauensvoten durchgehen. Von denen gibt es zwei, eins vom rechten Rassemblement National und ein weiteres von einem Zentrum-Linksblock. Um 16 Uhr soll im Parlament über sie abgestimmt werden. Bei 287 Ja-Stimmen würde die Regierung stürzen und ihre Rentenreform wäre hinfällig.

Präsident Macron hatte sich bis auf Krisensitzungen öffentlich zurückgehalten. Am Sonntagabend ließ er im Stimmungstief wissen: Er wünsche, dass das Rentengesetz seinen demokratischen Weg durch die Instanzen zu Ende gehe und alle Abgeordneten geschützt würden.

Scheitern die Misstrauensanträge, gilt die Rentenreform als angenommen. Aber würde das den Widerstand brechen?

Im Gegenteil, sagt der junge Streikende mit dem Vollbart in Issy: "Ich weiß nicht, ob die Menschen resignieren werden. Ich hoffe nicht. Denn dass sie den Artikel 49.3 angewandt haben, war die beste Dummheit, die sie machen konnten. Das gibt den Demos, dem Volksaufstand, neuen Elan. Das war der Ungerechtigkeit zu viel!"

Stefanie Markert, Stefanie Markert, ARD Paris, 19.03.2023 23:52 Uhr

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete Deutschlandfunk am 20. März 2023 um 05:05 Uhr.