Zerstörte Wohnung in Charkiw
reportage

Krieg in der Ukraine "Wir leiden alle wegen eines einzigen Menschen"

Stand: 02.01.2024 21:33 Uhr

In den vergangenen Tagen hat Russland wieder vermehrt zivile Ziele in ukrainischen Großstädten angegriffen. Die Nerven vieler Menschen dort liegen blank.

Von Andrea Beer, ARD Kiew

Ein Meer an Scherben und Autowracks, verbogene Türen, zerbombte Garagen und abgeknickte Wasserrohre aus denen es in die Kälte dampft. Am Tag nach den jüngsten russischen Angriffen wird so gut es geht aufgeräumt.

Auch vor einem mehrstöckigen Wohnhaus im Zentrum von Kiew, in das eine Rakete eingeschlagen ist und einen tiefen Krater gerissen hat. Aus dem Gebäude starren schwarz verbrannte Vierecke, wo einst die Fenster waren. Haus- und Wohnungswände sind aufgerissen und geben den Blick frei auf das, was gerade noch ein Leben war. Betten, Tische, Computer, Kühlschränke, Kleidung, Fahrräder, Spielsachen, Wäscheständer - all das ist nur noch ein chaotischer, matschiger, feuchter Haufen. Fast 50 Menschen wurden hier verletzt und zwei getötet.

Rettungskräfte stehen vor zerstörten Häusern in Kiew.

Zwei Menschen wurden bei den Angriffen in Kiew getötet, fast 50 verletzt.

Eine einzige Rakete genügt

Der Angriff auf Dienstag dauerte rund vier Stunden, und vor allem die Städte Kiew und Charkiw waren im Visier Moskaus - viele Menschen verbrachten die Nacht in der Metro oder in Badezimmern mit festen Wänden. Rund 70 der 99 russische Raketen hat die ukrainische Flugabwehr nach eigenen Angaben in der Nacht auf Dienstag abgeschossen, darunter zehn Hyperschallraketen "Kinschal".

Doch schon eine einzige genügt für eine große Menge tödliches Leid. Auch im Nachbarhaus zerschlug ihr mächtiger Druck die Fenster und Türen. Die Bewohner schaufeln - so gut es geht - die Massen an Scherben und Schutt hinaus.

Blick in eine Küche

Ihre Mutter habe gerade noch in der Küche Tee getrunken, erzählt Jana Martschuk. Kurz darauf seien die Fenster kaputtgegangen.

"Ich hasse sie nur noch"

"Hier war auf dem Boden alles voller Scherben", sagt Jana Martschuk. "Die Fenster haben wir schon wieder repariert." Die blonde Frau Mitte 40 hat in der kleinen Küche ihrer Mutter notdürftig Ordnung gemacht. "Ich habe überhaupt nicht geschlafen", sagt diese und setzt sich blass und nervös auf einen Holzhocker. Sie habe gerade noch in der Küche Tee getrunken, und kurz darauf seien die Fenster kaputtgegangen. "Mein Herz hat gerast, ich habe meine Medikamente genommen und geweint und gezittert."

"Mama beruhige dich doch", sagt Martschuk. Doch auch ihr hat der bedrohlich nahe Raketeneinschlag im Nachbarhaus sichtlich zugesetzt: "Ich wusste ja gar nicht, ob meine Mutter am Leben ist oder tot." Wie das alles nur möglich sei, fragt die Frau. "Wir leiden alle wegen eines einzigen Menschen, und Putin, dieses Schwein, sitzt solange in seinem Bunker."

Sie solle auf ihren Blutdruck achten, ermahnt Martschuk ihre Mutter immer wieder und redet sich selbst weiter in Rage. "Wir wollen nicht eins mit Russland sein", wiederholt sie immer wieder. Russland bringe nichts Gutes, nur Vergewaltigen, Plündern, Morden. "Früher war es mir egal, ob jemand Russe ist, aber jetzt hasse ich sie."

Ein zerstörtes Haus in Kiew.

Schwarz verbrannte Vierecke, wo einst die Fenster waren: zerstörtes Haus in Kiew.

Die Druckwellen zerstörten Tausende Fenster

Bei vielen Menschen in der Ukraine liegen die Nerven blank. Seit Tagen greift Russland die Ukraine massiv mit Drohnen und Raketen an. Stand Dienstagnachmittag wurden in Kiew und Umgebung sieben Menschen getötet und mindestens 49 verletzt.

In der ostukrainischen Stadt Charkiw kam ein Mensch ums Leben und mindestens 52 wurden verletzt, auch sechs Kinder. Dort sitzt die 25-jährige Anastasia auf ihrem gelben Rollkoffer vor den Trümmern ihres Hauses: "Ich habe immer gescherzt, dass unser Haus eine Insel der Sicherheit ist, denn wir haben immer die Explosionen gehört. Jetzt hat es uns doch getroffen, und das Haus ist kaputt. Gott sei Dank wurden wir nicht verletzt, das ist das Wichtigste."

12.000 Fenster gingen nach Angaben der regionalen Militärverwaltung alleine in Charkiw durch die Druckwelle zu Bruch - und man sei noch dabei, die Schäden der vergangenen Tage zu bewältigen.

Trümmer in Charkiw, Ukraine

In Charkiw kam bei den Angriffen rund um Neujahr ein Mensch ums Leben, mindestens 52 wurden verletzt.

Forderung nach Raketen mit größerer Reichweite

Der Chef der ukrainischen Streitkräfte Walerijy Saluschny lobte unterdessen die Arbeit der ukrainischen Flugabwehr. 72 der 99 russischen Raketen seien abgeschossen worden, schrieb Saluschny auf Telegram, auch zehn Hyperschallraketen seien dabei gewesen, die mithilfe von "Patriot"-Flugabwehrsystemen abgeschossen worden seien.

Unter anderem Außenminister Dmytro Kuleba nahm die russischen Luftangriffe rund um Neujahr erneut zum Anlass, Waffenlieferungen zu fordern. Konkret seien neue Flugabwehrsysteme und Munition nötig, sowie Kampfdrohnen und Raketen mit einer Reichweite von 300 Kilometern.

"Sonst zahlt ihr mit dem Blut eurer Söhne"

Präsident Wolodymyr Selenskyj schrieb auf Telegram, in den vergangenen fünf Tagen habe Russland mindestens 500 Raketen und Drohnen auf die Ukraine abgeschossen. Russische Raketen würden alles Lebende zerstören wollen, und die Ukraine versuche, so viele Leben wie möglich zu retten.

In der kleinen Wohnung ihrer Mutter ist Martschtuk indes bei der Weltpolitik angelangt. Frankreich, Deutschland, Großbritannien und die USA müssten der Ukraine helfen. Aus ihrer Sicht müssten die NATO-Länder Härte zeigen, denn das sei das Einzige, was der russische Präsident Putin verstehe. "Sonst zahlt ihr nicht nur mit Waffen oder Geld, sondern mit dem Blut eurer Söhne, Väter und Männer. So wie wir."

Andrea Beer, ARD Kiew, tagesschau, 02.01.2024 19:21 Uhr