Menschen halten sich auf der Straße vor einem durch russischen Beschuss zerstörten Wohnhaus in Isjum (Ukraine) auf
reportage

Isjum in der Ukraine Die Russen vertrieben - aber nicht das Misstrauen

Stand: 29.11.2023 07:47 Uhr

Sechs Monate war die ukrainische Stadt Isjum in russischer Hand, vor mehr als einem Jahr wurde sie befreit. Doch die Zerstörung und Verminung in dieser Zeit prägen immer noch den Alltag - und auch ein gegenseitiges Misstrauen.

Von Birgit Virnich, ARD Kiew und Andrii Shvets

Serhij und Denys kommen mit ihren Metalldetektoren nur langsam voran. Die beiden Soldaten vom ukrainischen Entminungsteam überprüfen eine abgelegene Zufahrtstraße nach Isjum auf Anti-Personen- und Anti-Panzerminen, damit die Arbeiten am Stromnetz weitergehen können. Bevor der Winter vollends einsetzt sollen wenigstens noch ein paar der von den russischen Streitkräften zerstörten Häuser wieder instand gesetzt werden.

Ukraine-Krieg: Reportage aus dem zeitweise von Russland besetzten Isjum in der Ukraine

Birgit Virnich, ARD Kiew, Mittagsmagazin, 29.11.2023 13:00 Uhr

"Die Russen haben alles vermint, Friedhöfe, die Wälder, die Flüsse und natürlich das Ackerland", erklärt Denys. "Es gibt hier überall Sprengfallen. Und sie haben Stolperdraht verlegt, was nach der Genfer Konvention verboten ist." Es ist eine Mammutaufgabe, das alles zu beseitigen.

Eine Stadt in Ruinen

Isjum, das nördliche Tor zur Industrieregion Donbas, sei eine der am meisten bombardierten Städte in der Ukraine, erklärt der stellvertretende Bürgermeister Wolodymy Matsokin in seinem provisorischen Büro. 80 Prozent der Gebäude sind zerstört, auch das Rathaus ist eine Ruine.

Karte: Isjum, Ukraine

Schraffiert: von Russland besetzte Gebiete

Immerhin flössen mittlerweile wieder Strom und Wasser in fast allen bewohnten Häusern. Und für Wärme im Winter habe die Stadt Container mit mobilen Pellet-Heizungen gekauft.

Vor dem Krieg gab es in Isjum elf Schulen und fast alle wurden beschädigt, sechs total zerstört. Und es fehlten die Mittel, sie wieder herzurichten, so Matsokins traurige Bilanz. "Die meisten Läden in der Stadt sind geschlossen und die Russen haben alles mitgenommen, was sie gebrauchen können: Traktoren, Bulldozer und Müllwagen", fährt er fort.

Tiefes Misstrauen

Soweit die sichtbaren Kriegsschäden. Doch fast noch schwerer wiege das Misstrauen unter den Menschen, klagt Matsokin. Sechs Monate lang, von März bis September 2022, hielten die Russen die Stadt besetzt und übten in der Zeit eine Schreckensherrschaft aus.

"Wir wussten zwar, was die Russen in den besetzten Gebieten tun, denn Russland hält ja schon seit 2014 Teile der Ukraine besetzt, und wir hatten schon seit Jahren Berichte von Flüchtlingen dokumentiert", sagt der Bürgermeister. "Aber es ist etwas anderes, wenn man es hautnah miterlebt.“ Überlebende berichten von wahren Menschenjagden auf Zivilisten und Vergewaltigungen.

Viele hätten am Ende mit den Russen kooperiert, aus Angst vor den Besatzern, erklärt Matsokin. "Hier wurden Menschen getötet aus reinem Vergnügen, nur weil die Russen ihre Macht demonstrieren wollten. Menschen wurden getötet, nur weil sie darum baten, ihr Handy zurückzubekommen." Andere wiederum hätten einfach so kooperiert, so sein trauriges Resümee.

Die Aufarbeitung hat gerade erst begonnen

Draußen inmitten der Trümmer prangen gesprayte Aufrufe auf den Mauern, Informationen über Kollaborateure an den ukrainischen Geheimdienst SBU weiterzugeben. In seinem Büro trägt Matsokin Hinweise zusammen, gegen Lehrer und auch Beamte. "Das ist kein einfacher Prozess und sehr schmerzhaft", erklärt er. Viele Dokumente seien verbrannt worden. "Also müssen wir uns auf die Aussagen von Betroffenen stützen."

Das werde sich über Jahre hinziehen, genau wie in Deutschland, wo noch Jahrzehnte später Menschen identifiziert wurden, die mit den Nazis kollaboriert hatten. "Doch die, die diese Verbrechen gegen unser Volk begangen haben, müssen eines Tages zur Rechenschaft gezogen werden."

Zerstörungen und Provokationen

Einen Eindruck von dem Schrecken jener sechs Monate unter russischer Besatzung gibt das Tagebuch des damals 50-jährigen ukrainischen Schriftstellers und Kinderbuchautors Wolodymyr Vakulenko.

Aus seinen Aufzeichnungen, die er während der Besatzung in seinem Garten vergraben hatte, geht hervor, dass er denunziert wurde. Vakulenko beschreibt darin, wie seine Nachbarn und er von Russen provoziert worden seien, wann immer sie am Feuer zusammenstanden. "Wir werden eine andere Ukraine aufbauen", hätten diese gegrölt.

"Sie verhöhnen uns", hält Vakulenko in seine Aufzeichnungen fest. "Sie zerstören unsere Häuser und geben sich als Beschützer aus. Und leider schüchtern sie damit einige Menschen ein und die kollaborieren dann." Mehrfach schreibt Vakulenko von seiner Angst, verraten zu werden.

Am 24. März 2022 holen ihn russische Soldaten aus seinem Haus. Nachbarn erzählen später, wie er zusammen mit seinem Sohn von russischen Soldaten in einem mit einem "Z" markierten Bus verschleppt wurde und nie wieder zurückkehrte.

Seine Leiche wurde später in einem Massengrab zusammen mit mehr als 400 weiteren Toten gefunden und mit Hilfe einer DNA Analyse identifiziert. Sein Tagebuch liegt heute im Literaturmuseum von Charkiw.

Neuanfang mit einem Café

11.000 Menschen sind bisher nach Isjum zurückgekehrt. So auch Hanna und Ivan Ovcharenko, beide Anfang zwanzig. Gemeinsam haben sie ein Café eröffnet, 60 km von der Front entfernt.

Sie wissen, dass der Neuanfang schwer wird und trotzdem wollen sie helfen, die Stadt wieder aufzubauen. Schließlich seien sie hier aufgewachsen.

"Wir wollen die Menschen ermutigen, miteinander ins Gespräch zu kommen", erklärt der 21-jährige Ivan Ovcharenko, "und ihnen die Hoffnung auf eine bessere Zukunft vermitteln".

Die Einwohner und auch die Soldaten von der Front kämen in das Café, um aufzutanken, erklärt seine Frau. "Sie genießen die ausgelassene Atmosphäre hier und den leckeren Kaffee. So einen haben sie schon lange nicht mehr getrunken."

Der Traum von der Rückkehr

Ein Thema, über das auch die Gäste im Café von Hanna und Ivan sprechen: Seit September läuft eine Online-Kampagne mit dem Titel "Ich werde zurückkehren".

Menschen aus Isjum, die in aller Welt geflohen sind, beschreiben darin, wie es ihnen seit der Besatzung ergangen ist und schicken Fotos. Sie schreiben, wie sie ihre Heimat vermissen und alles dafür geben würden, im Fluss Siverskiy Donets zu baden und das Land zu berühren.

Die Angst bleibt

Diejenigen, die in Isjum die Besatzung überlebt haben, sind gezeichnet. Die meisten sind sehr nachdenklich. Andere voller Wut. Viele haben Angst, dass die Russen zurückkehren könnten.

"Aber sie richten sich langsam wieder auf", meinen Hanna und Ivan. Dieser Prozess werde nicht leicht werden, befürchten sie, zumal ein weiterer harter Winter bevorsteht. Aber das junge Ehepaar will in Isjum bleiben. Sie glauben fest an den Neuanfang. 

Diese und weitere Reportagen sehen Sie im Mittagsmagazin - heute um 13 Uhr im Ersten.