Blick auf die Gedenkstätte des Kernkraftwerks Tschernobyl anlässlich des 37. Jahrestages der Atomkatastrophe von Tschernobyl, in Tschernobyl

Super-GAU und russische Besatzung Die doppelte Katastrophe von Tschernobyl

Stand: 26.04.2023 14:54 Uhr

In der Ukraine wird an die Atomkatastrophe von Tschernobyl vor 37 Jahren erinnert. Für die Mitarbeiter des stillgelegten AKW ist ein anderes Ereignis noch viel präsenter: die Besatzung der Atomruine durch die russische Armee.

Von Andrea Beer, ARD Kiew

Im Stadtmuseum von Slawutytsch beugt sich Ljudmilla Kosak über ein Modell der Atomanlage von Tschernobyl. "Hier arbeite ich", sagt die braunhaarige Ingenieurin und zeigt auf eines der Gebäude. Die 45-Jährige arbeitet seit 20 Jahren in dem stillgelegten Atomkraftwerk und lässt ihren Blick durch die kleine Tschernobyl-Ausstellung schweifen. 

Ljudmila Kosak

Die Ingenieurin Ljudmilla Kosak besucht die Tschernobyl-Ausstellung im Stadtmuseum von Slawutytsch.

An der Wand des Museums hängt ein großes Schwarz-Weiß-Foto der Ruine von Block 4, der am 26. April 1986 explodierte. Es war der größte anzunehmende Unfall in der zivilen Nutzung der Atomkraft: der Super-GAU.

Die verbliebenen hochradioaktiven Trümmer befinden sich unter einer 35.000 Tonnen schweren Betonhülle. Dieser Sarkophag ist auf 100 Jahre angelegt, darunter lauern rund 400.000 Kubikmeter geschmolzene Brennstäbe und Baumaterial. Doch was mit dem strahlenden Atommüll weiter geschieht, ist bislang unklar.

Tschernobylausstellung im Stadtmuseum in Slawutitsch

Exponate der Tschernobyl-Ausstellung.

Fast jeder Mitarbeiter unter russischer Aufsicht

Der rund 25.000-Einwohnerort Slawutytsch liegt rund 70 Kilometer entfernt und wurde nach dem Super-GAU von Tschernobyl für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des havarierten Atomkraftwerks gebaut. Viele Uhren der Stadt stehen auf 1.23 Uhr. Zu dieser Zeit kam es zur menschlich verursachten Katastrophe. Die Anlage wurde im Jahr 2000 abgeschaltet, der Rückbau dauert wohl mindestens vier Jahrzehnte.  

Eine Uhr in Slawutitsch zeigt 1.23 Uhr.

Die Uhr steht still. Am 26. April 1986 um 1.23 Uhr ereignete sich die Katastrophe von Tschernobyl.

Am 24. Februar 2022 besetzen russische Truppen dann das Atomgelände rund 150 Kilometer nördlich von Kiew, nahe der Grenze zu Belarus. An dem Tag war Ljudmilla Kosak in der Schicht. Wie alle wurde sie streng kontrolliert durch Angehörige der staatlichen russischen Atombehörde Rosatom und der russischen Armee. "Fast jeder Mitarbeiter wurde von einem russischen Soldaten beaufsichtigt. Sie kontrollierten, wann und wohin ich gehe, warum ich was mache und mit wem ich spreche", berichtet sie.

Ein Selfie von Ljudmila Kosak und Kollegen (Bild vom 1.3.2022)

Ein Selfie von Ljudmilla Kosak und Kollegen vom 1.3.2022. während der russischen Besatzung der Atomruine.

Sämtliche Sicherheitsvorschriften missachtet

Hell entsetzt musste Ljudmilla Kosak verfolgen, wie die Besatzer der russischen Armee rund um die stillgelegte Anlage Tschernobyl alle Sicherheitsvorschriften missachteten: Sie verminten einen Teil des Geländes und zerstörten teils Labore, in denen radioaktiver Abfall untersucht wurde.

Zudem hoben sie Schützengräben in der Sperrzone aus, im sogenannten roten Wald, füllten Sandsäcke für Befestigungen mit Material von vor Ort und atmeten alles ein. "Jeder russische Soldat nimmt ein Stück Tschernobyl mit nach Hause. Tot oder lebendig", so der ukrainische Energieminister Herman Haluschtschenko damals.

Die Besatzer machten mehr als 300 Fahrzeuge kaputt oder nahmen sie mit. Nach dem Abzug Ende März 2022 fehlten Hunderte Fahrzeuge, Computer, Strahlendosimeter, Software oder Feuerwehrausrüstung. Auch das System, welches die Radioaktivität in der 30-Kilometer-Sperrzone überwacht, lief während der Besatzung nicht. Einige Tage war die Anlage ohne Strom.  

Verlassene Gefechtsstellungen, die russische Truppen in der Sperrzone von Tschernobyl errichtet hatten.

Verlassene Gefechtsstellungen, die russische Truppen in der Sperrzone von Tschernobyl errichtet hatten.

"Was immer man sagte, sie waren aggressiv"

Für Sicherheitsingenieurin Kosak war es der reinste Alptraum. In den ersten Tagen hätten sie noch Dinge ansprechen können, etwa wo man nicht graben dürfe, aber das sei immer schwieriger geworden: "Was auch immer man sagte, die Russen waren aggressiv. Sie wollten uns loswerden, aber gleichzeitig brauchten sie uns, weil sie die Anlage überwachen mussten." 

Den Spezialisten sei nichts passiert, so Kosak, aber sie hätten ständig arbeiten müssen. Das ausgelaugte Team schlief auf Tischen oder Bänken, erstellte einen eigenen Schichtplan und wechselte sich alle drei Stunden bei der anstrengenden Arbeit ab - auch nachts. Die ersten Tage konnten sie noch mit ihren besorgten Angehörigen telefonieren, dann nicht mehr.

Ein Mitarbeiter schläft euf einem Bürotisch

Schuften bis zur totalen Erschöpfung. Ein Mitarbeiter schläft auf einem Bürotisch (Foto von 2022).

Kinder wähnen den Vater beim Militär

Auf einer Parkbank in Slawutytsch erzählt Angelina von ihrem Besatzungstrauma: Ihr Mann war einer von fast 170 ukrainischen Nationalgardisten, die Tschernobyl am 24. Februar 2022 bewachten. Er wurde in russische Gefangenschaft verschleppt. Vor mehr als einem Jahr hatte die ernste Frau den letzten direkten Kontakt.

Seitdem hat sie nur von entlassenen Mitgefangenen ein paar Informationen: "Einer sagte, er habe ihn durch einen Spalt in der Gefängniszelle meinen Mann gesehen. Ich bin sehr dankbar für solche Informationen. Wenn sie noch so klein sein mögen, sind sie sehr wichtig."

Angelina

Angelinas Mann bewachte Tschernobyl am 24. Februar 2022. Er wurde in russische Gefangenschaft verschleppt.

Ihre drei Kinder wähnen den Vater bei der Armee, denn den kaum erträglichen Gedanken an die Tortur russischer Gefangenschaft möchte Angelina ihnen ersparen. In einer von ihr mitgegründeten Organisation setzt sich Angelina für die Freilassung der Gefangenen und Gesundheitsuntersuchungen für Entlassene ein.

Der Papst, die Vereinten Nationen, das Internationales Rote Kreuz, ukrainische Behörden - an alle habe sie sich gewandt. Und auch der deutsche Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck verspricht Anfang April bei seinem Besuch in Slawutytsch zu helfen. Jeder Gefangenenaustausch sei wie ein frischer Wind, sagt Angelina - und hofft weiter. "Welche Forderungen können wir schon haben? Unsere Geliebten so schnell wie möglich nach Hause zu bringen. Das ist alles, was wir wollen", sagt sie. 

Kollegen lassen sich austauschen

Sicherheitsingenieurin Kosak ist der russischen Besetzung von Tschernobyl äußerlich unbeschadet entkommen. Nach 600 langen Stunden wurde sie von mutigen Kollegen abgelöst, die sich freiwillig für die Arbeit in Tschernobyl austauschen ließen. Um auf ukrainisch kontrolliertes Gebiet zu gelangen, musste Kosak durch einen Wald voller Soldaten und Scharfschützen laufen, ein Boot brachte sie schließlich in Sicherheit. "Ehrlich gesagt war es sehr beängstigend", erzählt sie rückblickend.  

Dass sich Kollegen für sie und andere austauschen ließen und ihre Freiheit gegen russische Besatzung eintauschten, erfüllt Ljudmilla Kosak bis heute mit intensiven Gefühlen und tiefer Dankbarkeit. Wenn sie davon spricht, schimmern Tränen in ihren Augen: "Wir waren ja eigentlich zufällig da, aber sie haben sich für uns freiwillig in russische Gefangenschaft begeben."

Andrea Beer, ARD Kiew, tagesschau, 26.04.2023 15:30 Uhr

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete Inforadio am 26. April 2023 um 07:57 Uhr.