Blick in die illegale Siedlung bei Madrid.
Europamagazin

Illegale Siedlung bei Madrid "Sektor 6" soll weichen

Stand: 11.03.2023 15:23 Uhr

In Europas größter illegaler Siedlung bei Madrid leben Tausende ohne Strom. Die Siedlung ist über Jahrzehnte gewachsen - nun soll zumindest ein Teil der Bewohner umziehen. Nicht alle sind damit einverstanden.

Auf der Hochebene Spaniens war der Winter wieder kalt. Immer wieder sanken die Temperaturen unter den Gefrierpunkt. Hier liegt die Hauptstadt des Landes, Madrid. Und nur 20 Autominuten vom Zentrum entfernt liegt die wohl größte illegale Siedlung Europas.

Seit Oktober 2021 gibt es hier in vielen Häusern keinen Strom mehr. Allein 1800 Kinder sollen betroffen sein, schätzt der Europäische Ausschuss für Sozialrechte.

Einst viele illegale Siedlungen

Wie ein dünnes Band ziehen sich Häuser in der betroffenen Gegend entlang einer Straße. Es war einmal ein Weg, auf dem Vieh getrieben wurde. Irgendwann ließen sich dort Menschen nieder, bauten Hütten und Häuser. Solche Siedlungen gab es viele in Spanien. Nach Genehmigungen fragte in den Franco-Jahren niemand.

Das Problem erledigte sich vielerorts von selbst. Städte wuchsen und verschluckten die illegalen Siedlungen einfach. Die im Osten Madrids aber blieb und heißt heute wie der historische Weg, an dem sie entstand: Cañada Real - "Königlicher Weideweg".

Illegale Siedlungen in Spanien

Sebastian Kisters, ARD Madrid, Europamagazin 12:45 Uhr

"Supermarkt für Drogen"

"Supermarkt für Drogen", nennt Markel Gorbea dagegen Abschnitte der 14 Kilometer langen Straßensiedlung. Er ist Beauftragter der Regionalregierung von Madrid für die illegale Siedlung. Einen Teil würden die Behörden gerne legalisieren. Aber den südlichsten Teil wollen sie abreißen.

Es geht um den sogenannten "Sektor 6". Auf viele Verschläge und Bretterbuden ist hier das Wort "Kiosko" gesprüht. In Madrid ist es kein Geheimnis, dass es in diesen Kiosken keine Schokolade und keine Zeitschriften gibt - sondern Drogen.

Die Polizei hat kürzlich ein Video von einer Razzia veröffentlicht. Zu sehen sind grell beleuchtete Marihuana-Plantagen. Der enorme Strombedarf für den Drogenanbau hat wohl das Stromnetz stellenweise kollabieren lassen.

Auf einen Verschlag in der Siedlung Cañada Real bei Madrid ist das Word "Kiosko" gesprüht.

Auf viele Verschläge in der Siedlung Cañada Real ist das Wort "Kiosko" gesprüht. Das Wort signalisiert, dass hier Drogen verkauft werden.

Kritik der Vereinten Nationen

Hier leben Migranten und Spanier, die von Krisen hergetrieben wurden - oder schon vor Jahrzehnten entlang des alten Weges gebaut haben, weil es eine Möglichkeit war, sehr günstig in der Nähe des Stadtzentrums zu wohnen, wo es Arbeit gibt.

Sie zünden abends Kerzen an, damit es ein bisschen Licht gibt. Ein UN-Sonderberichterstatter für Menschenrechte wandte sich bereits im vergangenen Jahr an Spanien: Dass Kinder im Winter ohne Strom leben müssten, "sei unverantwortlich". Nun legte der Europäische Ausschuss für Sozialrechte nach. Spanien gefährde das Recht auf Gesundheit. Es gehe um 4500 Menschen in der Cañada Real.

Doch die Regionalregierung von Madrid will das Stromnetz nicht reparieren. Denn dann würden noch mehr Drogen angebaut, heißt es. Die Menschen aus dem "Sektor 6" sollen stattdessen umziehen. Die Stadt Madrid hat dafür mehr als 400 Wohnungen in unterschiedlichen Stadtteilen gekauft.

Familien aus der Cañada Real können hier einziehen. In den ersten drei Monaten zahlen sie 50 Euro Miete, danach rund 200. Der Staat übernimmt den Rest. Ihre alten Häuser werden abgerissen.

Der Beauftragte der Regionalregierung für die illlegale Siedlung Cañada Real, Markel Gorbea, vor einer Karte.

Wie ein dünnes Band ziehen sich Häuser in der Siedlung Cañada Real entlang einer Straße. Markel Gorbea ist Beauftragter der Regionalregierung für die illlegale Siedlung.

Umzug - oder Räumung

Für viele Familien ist es eine große Chance. Manche haben zum ersten Mal fließend warmes Wasser und Licht, das auf Knopfdruck angeht. Andere aber lieben ihr Leben mit Hühnern und kleinem Garten, den selbstgebauten Häuschen.

Ein Mann steht vor seinem Haus im "Sektor 6" und sagt: "Es hat niemand gesagt, dass wir hier bauen dürfen. Aber es wussten doch alle. Und es hat eben auch niemand gesagt, dass wir hier nicht bauen dürfen." Viele denken, dass Madrid hier Häuser abreißen will, um später neue bauen zu lassen. Auf Grundstücken, die sich in der Nähe des glitzernden Stadtzentrums teuer verkaufen lassen.

Markel Gorbea im Gespräch mit Anwohnern einer illegalen Siedlung bei Madrid.

In diesen Tagen verlassen Familien die Siedlung. Anderen drohen die Behörden mit Räumung.

Markel Gorbea, der behördliche Beauftragte für die Cañada Real, widerspricht. Der "Sektor 6" liege am Rande eines Naturschutzgebietes, auch deshalb hätte hier nie gebaut werden dürfen. Und das gelte auch für die Zukunft.

In diesen Tagen verlassen Familien die wohl größte illegale Siedlung Europas. Anderen drohen die Behörden mit Räumung. In Fässern an der Straße brennen Feuer - ein Signal für Kunden aus der Stadt, dass hier Drogen verkauft werden. Wenig weiter lassen sich Bewohner Solaranlagen auf ihre Häuser bauen. Es ist kompliziert.

Diese und weitere Reportagen sehen Sie im Europamagazin - am Sonntag um 12.45 Uhr im Ersten.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete das Europamagazin am 12. März 2023 um 12:45 Uhr.