Die vier Kandidaten auf dem Wahlzettel an einer Wahlkabine in Moskau.
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Russland Wie Putins organisierte Wiederwahl abläuft

Stand: 16.03.2024 09:45 Uhr

Russlands Präsidentenwahl an diesem Wochenende ist weder frei noch fair und soll mitten im Krieg vor allem Putins Macht stärken. Wie funktioniert die Wahl ohne Wahl - und was heißt das für die Zukunft?

Mehr als zwei Jahre nach Beginn der Großinvasion in die Ukraine hält Russland bis Sonntag eine Präsidentenwahl ab, deren Sieger jetzt schon feststeht: Kremlchef Wladimir Putin wird sich aller Voraussicht nach ein Rekordergebnis bescheinigen lassen und so seine fünfte Amtszeit sichern.

"Es geht um eine patriotische Abstimmung", Silvia Stöber, NDR, zur Präsidentenwahl in Russland

tagesschau24, 16.03.2024 10:00 Uhr

Echte Oppositionspolitiker sind von der Wahl ausgeschlossen, ins Ausland geflohen, sitzen im Gefängnis - oder sind tot. Hinzu kommen laut Beobachtern Betrug und Manipulation. Die Abstimmung ist so weit von demokratischen Standards entfernt, dass einige nur noch von "Scheinwahlen" sprechen. Antworten auf wichtige Fragen:

Dreitägige Präsidentenwahl in Russland geht weiter

tagesschau24, 16.03.2024 09:00 Uhr

Wie läuft die Wahl ab?

Russlands zentrale Wahlkommission hat die Wahl für drei Tage angesetzt - vom 15. bis zum 17. März. Zur Stimmabgabe aufgerufen sind insgesamt mehr als 112 Millionen Menschen, darunter auch Millionen Menschen in den völkerrechtswidrig annektierten ukrainischen Gebieten der Krim, um Donezk, Luhansk, Saporischschja und Cherson. Hinzu kommen rund zwei Millionen Wahlberechtigte in anderen Ländern.

Russland erstreckt sich über elf Zeitzonen; die Wahl beginnt im äußersten Osten und endet am Sonntag um 19.00 Uhr mitteleuropäischer Standardzeit in der Ostsee-Exklave Kaliningrad. Mit Schließung der letzten Wahllokale werden Prognosen veröffentlicht, die aller Voraussicht nach auf einen haushohen Sieg Putins hinweisen.

Das Endergebnis will die Wahlkommission spätestens am 28. März verkünden. Die Scheinabstimmungen in den besetzten Gebieten sind völkerrechtswidrig und deshalb international nicht anerkannt. Die Urnengänge dort haben bereits begonnen und sorgen auch deshalb für Verstörung, weil Bilder zeigen, wie die ukrainischen Menschen teils in Anwesenheit schwer bewaffneter russischer Soldaten zur Stimmabgabe gedrängt werden.

Auch auf russischem Staatsgebiet werden demokratische Standards so schwer verletzt, dass Beobachtern zufolge von freier Wahl keine Rede sein kann.

Was macht die Abstimmung so unfair?

Wie schon bei früheren Abstimmungen wird auch dieses Mal mit Betrug in großem Stil gerechnet, auch, weil es vor Ort keine Kontrolle durch unabhängige internationale Wahlbeobachter geben wird.

Als besonders anfällig für Manipulation gilt die Online-Stimmabgabe, weshalb Kremlkritiker den Russen davon abraten. Die unabhängige Wahlbeobachtungsorganisation "Golos", die seit Jahren in Russland als "ausländischer Agent" gebrandmarkt ist, hat auch an anderer Stelle Kritik geübt: So werde in den einzelnen Regionen schon im Vorfeld "massenhaft" Druck auf Angestellte großer, teils staatlicher Unternehmen ausgeübt, damit diese ihre Stimme abgeben und so die Wahlbeteiligung in die Höhe treiben, heißt es in einem kürzlich veröffentlichten Bericht.

Orientiert man sich an den Daten des staatlichen russischen Meinungsforschungsinstituts WZIOM, dann strebt der Kreml eine Beteiligung von mehr als 70 Prozent an. 

Vor allem aber verweisen unabhängige Beobachter darauf, dass viele echte Oppositionspolitiker entweder ins Ausland geflohen oder in Russland festgenommen und zu teils drakonischen Haftstrafen verurteilt worden sind. Für besonderes Entsetzen sorgte Mitte Februar zudem der Tod des inhaftierten Kremlgegners Alexej Nawalny, der vor einigen Jahren selbst einmal Präsidentschaftskandidat werden wollte.

Gibt es ernstzunehmende Gegenkandidaten?

Nein. Putins drei Mitbewerber - der Kommunist Nikolai Charitonow, Wladislaw Dawankow von der Spoiler-Partei "Neue Leute" und Leonid Sluzki von der nationalistischen Partei LDPR - sind nicht nur völlig chancenlos, sie sind in wesentlichen Punkten auch voll auf Kremllinie.

Jedem von ihnen prognostizieren die staatlichen Meinungsforscher fünf bis sechs Prozent der Stimmen. Putin wiederum werden 82 Prozent vorausgesagt - so viel wie noch nie in zuvor seit seinem Amtsantritt als russischer Staatschef vor fast einem Vierteljahrhundert im Jahr 2000. 

Die einzigen wirklich oppositionellen Bewerber Jekaterina Dunzowa und Boris Nadeschdin wurden von der Wahlkommission gar nicht erst als Kandidaten zugelassen. Trotzdem machten die beiden Kriegsgegner vielen kritisch eingestellten Russen Mut: Die rund 200.000 Menschen, die im Januar teils in langen Schlangen anstanden, um Nadeschdin mit ihrer Unterschrift zu unterstützen, sorgten damals weit über Russland hinaus für Schlagzeilen.

Welche Rolle spielt der Krieg gegen die Ukraine?

Putin wird das hohe Wahlergebnis, das er sich produzieren lässt, sicherlich dazu nutzen, um die angeblich riesige Zustimmung für seinen brutalen Angriffskrieg zu unterstreichen. Zugleich aber wird die zunehmende Kriegsmüdigkeit vieler Russen sichtbar: Da sind nicht nur die Warteschlangen für Nadeschdin, sondern beispielsweise auch die Proteste von Ehefrauen mobilisierter Männer, die es seit Wochen immer wieder in der Nähe des Roten Platzes gibt.

Genau deshalb habe der Kreml das Thema Krieg im Wahlkampf bewusst ausgeklammert, sagt Politikwissenschaftler Alexander Kynew der Nachrichtenagentur dpa: "Jedes Gespräch über den Krieg führt zu der Frage: Wann hört er auf? Die Staatsmacht hat darauf keine Antwort. Deshalb geht sie der Diskussion aus dem Weg."

Ist mit Protesten am Wahltag zu rechnen?

Tatsächlich rufen die Unterstützer des gestorbenen Nawalny und andere Oppositionelle die Russen dazu auf, am Wahltag um exakt 12.00 Uhr vor den Wahllokalen zu erscheinen. An den langen Schlangen - so ihre Hoffnung - soll sich dann ablesen lassen, wie hoch die Unzufriedenheit im Land ist. Ob die Aktion Erfolg haben wird, bleibt abzuwarten. Beobachter vermuten, dass es zu Festnahmen kommen wird. 

Dass sich Bilder wie von der Nawalny-Beerdigung in nächster Zeit wiederholen könnten, gilt unterdessen als ausgeschlossen. Zu der Beisetzung Anfang März waren Tausende Menschen erschienen und hatten zur Überraschung vieler Beobachter offen kremlkritische Sprechchöre wie "Nein zum Krieg!" und "Russland ohne Putin!" angestimmt. Für gewöhnlich aber werden Kritiker und Andersdenkende seit Kriegsbeginn direkt festgenommen, wenn sie ihren Unmut in irgendeiner Form öffentlich äußern. 

Wie wird es nach der Wahl weitergehen?

Der 71 Jahre alte Putin hat sich dann sechs weitere Jahre an der Spitze Russlands gesichert - und kann theoretisch auch im Jahr 2030 noch einmal antreten. Damit so viele Amtszeiten bis 2036 möglich sind, hatte der Kremlchef extra vor knapp vier Jahren die Verfassung ändern lassen. Nach der Präsidentenwahl steht traditionell auch die Ernennung einer neuen Regierung an. 

Einige Politologen gehen davon aus, dass die Repressionen gegen Kritiker in Russland nach der Wahl noch zunehmen. Der russische Politikwissenschaftler Andrej Kolesnikow sagte in einem Medien-Briefing, das die Deutsche Sacharow-Gesellschaft organisierte: "Dieses Regime wird sich zweifellos ausschließlich in eine schlechte Richtung entwickeln. Es wird keine Schwachstellen zulassen. Es wird sich nicht liberalisieren. Es wird sich nicht normalisieren. Und genau darin liegt die Gefahr." Seiner Einschätzung nach ist Putins Russland mittlerweile mehr als nur ein autoritärer Staat: "Es gibt definitiv Elemente von Totalitarismus oder Neototalitarismus."

Gibt es irgendeine Aussicht auf politischen Wandel?

In naher Zukunft sieht den kaum jemand. Ein bedeutender Teil der russischen Gesellschaft bestehe aus "passiven Konformisten", die den Krieg mittrügen, sagt Kolesnikow. Zwar gebe es trotz aller Repressionen weiter auch verantwortungsvolle Bürger, die sich dagegenstellten. Doch für Wandel brauche es zusätzlich auch einen "Impuls von oben" - wie am Ende der Sowjetunion unter Michail Gorbatschow.

Eine Oppositionspolitikerin, die aus Sicherheitsgründen anonym bleiben will, betonte, wie wichtig die Bedeutung von Zivilgesellschaft und Vernetzung auch im Stillen und im Kleinen dennoch sei: "Putin wird früher oder später gehen, aber die Gesellschaft wird bleiben."

Quelle: dpa

Björn Blaschke, ARD Moskau, zzt. Tiflis, tagesschau, 16.03.2024 09:56 Uhr

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete tagesschau24 am 16. März 2024 um 10:00 Uhr.