Ilja Jaschin winkt aus seinem Angeklagtenstand vor Gericht.
weltspiegel

Russland Keine Freiheit für Andersdenkende

Stand: 15.01.2024 14:31 Uhr

Ob YouTube-Videos über die Nachrichtenlage oder Kunstaktionen im Supermarkt: Wer sich in Russland kritisch gegen Staat, Militär und Justiz äußert, muss harte Strafen fürchten. Wie geht es den Verurteilten und ihren Angehörigen?

Es gibt Applaus im Saal, als Ilja Jaschin an einem Tag im Dezember sein letztes Wort im Berufungsverfahren spricht - zugeschaltet aus einem Straflager in das Moskauer Gericht. Auf dem Monitor sieht man ihn in Sträflingsuniform hinter dicken Gittern. Zu achteinhalb Jahren ist er verurteilt, wegen "Diskreditierung der Armee". Er sei Politiker, hört man Jaschin über die schlechte Tonleitung sagen, er sehe es als seine Aufgabe, die Dinge beim Namen zu nennen, die Wahrheit zu sagen. Deshalb nenne er den Krieg Krieg, deshalb habe er von Butscha berichtet. Der Richter möge es wenigstens offen sagen, dass man ihn nur wegen seiner Meinung verurteilt habe.

Natürlich scheitert die Berufung. Ilja Jaschins Eltern Tatjana und Walerij haben mit nichts anderem gerechnet. Dennoch sind sie im Saal, ein Platz mit freier Sicht auf den Monitor. Die Verfahren sind fast die einzige Chance, den Sohn zu sehen. Ganz selten dürfen sie ihn in der Haft besuchen - im Mai haben sie ihn gesehen und dann wieder im November. Bei Besuchen müssten sie in eine enge Kabine, sagen die Jaschins, hinter zwei dicken Glasscheiben sitze ihr Sohn, man könne ihn nur verschwommen sehen, er spreche in einen Telefonhörer.

In Russland wird jeder Andersdenkende weggesperrt

Ina Ruck, ARD Moskau, Weltspiegel, 14.01.2024 18:30 Uhr

Jaschin wollte nicht ausreisen

Ilja Jaschin, 40, früher ein enger Weggefährte des ermordeten Oppositionspolitikers Boris Nemtsow, wurde in Russland zum "ausländischen Agenten" erklärt. In seinem populären YouTube-Kanal hatte die westliche Berichterstattung zu den Ereignissen in Butscha zitiert und mit der russischen verglichen. Schon das war offenbar zu viel.

"Ilja hat gesagt, Mama, du musst bereit sein, sie können mich jederzeit holen", erzählt Tatjana Jaschina. Kein Oppositioneller könne mehr ruhig schlafen in Russland, deswegen hätten viele das Land verlassen. "Unser Sohn hätte Emigration als Verrat gesehen", sagt Walerij Jaschin - "vor allem wegen seines Freundes Boris Nemtsow".

Ilja Jaschins Eltern Walerij und Tatjana

Ilja Jaschins Eltern Walerij und Tatjana machen sich stets zurecht, wenn sie zur Gerichtsverhandlung gehen - das gebe ihrem Sohn Ilja Kraft, meinen sie.

Längst nicht alle wissen, wie gefährlich selbst kleinster Protest ist. Auch die Sankt Petersburger Künstlerin Aleksandra Skotschilenko hatte keine Ahnung, welches Risiko sie eingeht, als sie kleine falsche Preisschilder ans Supermarktregal steckte.

Auf einem der Schildchen steht "400,-", als wäre das ein Rubelpreis. Schaut man genau hin, steht da in kleiner Schrift: "Etwa 400 Menschen verstecken sich in Mariupol in einer Schule vor den Bomben". Fünf solcher Etiketten hatte Aleksandra verteilt, ihr kleiner stiller Protest - dachte sie. Doch jemand meldete die Schildchen bei der Polizei, mit Hilfe einer Überwachungskamera des Supermarkts wurde Aleksandra gefunden. Als die Richterin das Urteil verliest, bricht sie in Tränen aus: sieben Jahre Lagerhaft.

Partnerin bringt spezielle Nahrung

Aleksandra sitzt seit Sommer 2022 in U-Haft. Seitdem trägt ihre Lebensgefährtin Sonja Subbotina zweimal in der Woche Tüten mit Lebensmitteln und Wasserflaschen ins Gefängnis. 30 Kilo pro Monat dürfen Angehörige bringen. Sonja hat 35 herausgehandelt. Denn Sascha, so wird sie von allen genannt, hat eine Gluten-Unverträglichkeit, braucht spezielle Nahrung. Und sie braucht Medikamente - sie hat einen angeborenen Herzfehler, ein Loch im Herzen.

Subbotina hat die gemeinsame Wohnung gekündigt. Seit der Hausdurchsuchung, sagt sie, könne sie dort nicht mehr schlafen: "Ich habe mich vor jedem Schritt im Treppenhaus gefürchtet, ich habe immer gedacht, jetzt kommen sie wieder." Jetzt mietet sie ein Zimmer in einer heruntergekommenen Kommunalka, einer aus Sowjetzeiten stammenden Gemeinschaftswohnung mit neun anderen Mietern. In der Küche stehen zehn Kühlschränke, man teilt sich drei Duschen und drei Toiletten.

Alexandra Skotschilenko

Die Künstlerin Aleksandra Skotschilenko als Angeklagte vor Gericht.

In Sonjas Zimmer türmen sich Kartons mit glutenfreiem Brot, Schokoriegeln, Bananen. Bei Sonja selbst wurde im Frühjahr Brustkrebs entdeckt, sie wurde sofort operiert, die Prognose ist gut. Seitdem, sagt sie, habe sie kein schlechtes Gewissen mehr, wenn sie etwas für sich selbst tut. Sie müsse stark bleiben für Sascha.

Einmal durfte ich Saschas Hand halten, das ist mehr als ein Jahr her. Ich hab ihre Bewacher gefragt, bei einem Gerichtsprozess, da hatte gerade eine nette Schicht den Dienst. Ich hab Saschas Hand genommen und wir haben beide geweint. Aber es war so gut, sie berühren zu können.

"Das tun wir für unseren Sohn"

Auch das Leben der Jaschins kreist jetzt nur um den Sohn. Ab und an schauen sie in seiner leeren Wohnung vorbei, treffen sich dort mit seinen Freunden. "Wir sind in diese Situation geraten. Es ist jetzt wichtig, dass wir unsere Würde behalten. Wir dürfen uns nicht als Opfer sehen. Das machen wir für uns und vor allem auch für unseren Sohn", sagt Vater Jaschin.

Tatjana geht vor jedem Gerichtsprozess zur Maniküre, schminkt sich sorgfältig - sie wisse, dass ihr Sohn so etwas bemerkt und mag. Ilja solle sehen, dass es ihnen gutgehe, dass sie stark blieben.

Beide haben dieselbe Hoffnung wie die Familien vieler anderer inhaftierter Oppositioneller - dass das Regime kurzlebiger sein möge als die Haftstrafe ihrer Angehörigen. Walerij Jaschin formuliert es so: "Das alles hier ist so absurd, wird immer absurder. Das kann einfach nicht mehr lange halten".

Sonja Subbotina in Sankt Petersburg schöpft Hoffnung durch die vielen Briefe aus ganz Russland und sogar aus dem Ausland, die ihre Freundin bekommt. In Sonjas Zimmer lehnt eine kleine Zeichnung am Regal, die Sascha aus dem Gefängnis geschickt hat: Sie zeigt einen Häftling in einer engen Zelle, dem Flügel wachsen - Flügel aus weißen Briefumschlägen.

Journalisten filmen den Bildschirm, auf dem der Angeklagte Ilja Jaschin erscheint.

Journalisten filmen den Bildschirm, auf dem der Angeklagte Ilja Jaschin erscheint.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete der Weltspiegel am 14. Januar 2024 um 18:30 Uhr.