Serbische Gendarmeriebeamte bewachen Migranten in der Nähe der ungarischen Grenze

Mehr Migration auf der Balkanroute Erst nach Serbien und dann in die EU

Stand: 28.09.2022 07:07 Uhr

Die Zahl der Asylbewerber in Deutschland ist im ersten Halbjahr 2022 deutlich gestiegen - die meisten Menschen kamen aus Syrien, Afghanistan und dem Irak über die sogenannte Balkanroute. Woran liegt das?

Von Srdjan Govedarica und Borhan Akid, WDR

Schwerte schlägt Alarm. Immer mehr Flüchtende kommen in der Ruhrgebietsstadt an, Unterkünfte gibt es aber keine mehr, weder städtische noch private. Nun sollen die Menschen im Rathaus untergebracht werden, im Bürgersaal, wo sonst Seminare und Tagungen stattfinden.

Auch Bochum gehen die Unterkünfte aus. Dort sind in den vergangenen Wochen ungewöhnlich viele unbegleitete Minderjährige angekommen, vor allem aus Syrien und Afghanistan. Sie werden nun in Turnhallen untergebracht. Ähnliche Notlagen werden auch aus Kommunen in Sachsen und Bayern gemeldet.

Visafrei von Serbien bis nach Luxemburg

Viele der Menschen kommen über die sogenannte "Balkanroute", und aktuell steigt die Zahl der Migranten, die versuchen, auf diesem Weg in die EU zu gelangen. Das hat mehrere Ursachen: Zum einen macht sich wie jedes Jahr im Spätsommer ein gewisser Anstieg der Migration bemerkbar. Die Menschen ziehen los, bevor das kalte Winterwetter den Weg zu Fuß oder über das ohnehin gefährliche Mittelmeer schwer bis unmöglich macht.

In diesem Jahr kommt ein weiteres Phänomen dazu. Beispiel Österreich: Dort werden zur Zeit auffällig viele Asylanträge von Menschen aus Indien und Tunesien registriert. Indien ist seit Juli 2022 sogar die antragsstärkste Nation. Das ist unter anderem damit zu erklären, dass Staatsbürger dieser Länder ohne Visum nach Serbien einreisen dürfen. Viele schlagen sich von dort dann weiter durch in den Westen - sogar bis nach Luxemburg.

Dort kämen gerade auffällig viele Menschen ohne Pässe an, berichtet Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn, der auch für Migration verantwortlich ist. Es sei nicht nur Serbien, so Asselborn - auch Albanien und Bosnien und Herzegowina seien für Menschen aus Drittstaaten visafrei zu erreichen, etwa für Migranten aus der Türkei. Es könne nicht sein, dass diese Länder - allesamt EU-Aspiranten - mit ihren Visaregimen die gemeinsame Linie der EU  verlassen, so Asselborn gegenüber dem WDR.

Reaktion auf Arbeitskräftemangel in Europa

Die Wiener Migrationsforscherin Judith Kohlenberger spricht von einer "gemischten Migration", die dieses Jahr eine größere Rolle spiele. Das heißt, unter den Ankommenden seien viele Menschen, die auf den steigenden Arbeitskräftemangel in Westeuropa reagieren, analysiert Kohlenberger.

Da es keine legalen Einreisemöglichkeiten für diese Menschen gebe, würden sie Asyl beantragen, um nicht sofort abgeschoben zu werden, wenn sie bei Grenzkontrollen aufgegriffen werden:

Nicht zuletzt spielen in diese Gemengelage auch die ökonomischen Auswirkungen des russischen Angriffskriegs in der Ukraine hinein, wodurch die wirtschaftliche Not in Ländern des Globalen Südens steigt. Flucht- und Migrationsgründe, also freiwillige und unfreiwillige Ausreise, gehen da oft ineinander über.

Türkei - Serbien für 2500 Euro

Derweil sind Schlepper entlang der Balkanroute wieder aktiver. Nach Recherchen des ARD-Studios Wien gehen sie gewohnt rücksichtslos vor. Mit den Schleppern Kontakt aufzunehmen, ist nicht besonders schwer. In einer Telegramgruppe, deren Name nach einem Reisebüro klingt, gibt ein vermeintlicher Menschenschmuggler bereitwillig Auskunft über Routen und Tarife. Die Fahrt Türkei-Serbien koste 2500 Euro, inklusive Übernachtung in der bulgarischen Hauptstadt Sofia, schreibt der Mann.

Die Reise dauere drei bis fünf Tage, etwa 20 bis 30 Kilometer müsse man zu Fuß gehen, die restliche Zeit werde man gefahren. Eine Erfolgsgarantie könne er nicht abgeben, schreibt er: "Das ist Schmuggel! Wir hoffen, dass Gott es einfach für uns macht."

Flüchtlinge aus Indien und Syrien gehen im Dunklen zur Grenze zwischen Bosnien-Herzegowina und Kroatien (Archivbild vom 12.12.2019).

Politik des Durchwinkens?

Doch wie kommen die Geflüchteten aus den Ländern Südosteuropas weiter in den Westen? Migrationsforscherin Kohlenberger möchte nicht von einer Politik des "Durchwinkens" wie im Jahr 2015 sprechen. Es sei aber ein "offenes Geheimnis", dass die Grenzen nach Osten stärker bewacht würden, als jene nach Westen, über die Geflüchtete das eigene Staatsgebiet wieder verlassen.

Mehr Grenzpersonal führe zu mehr Aufgriffen von Migranten und das schlage sich auch in den Asylzahlen nieder. Denn nur, so Kohlenberger, wenn die Aufgegriffenen einen Asylantrag stellten, könnten sie eine sofortige Abschiebung verhindern. "Viele von ihnen warten aber den Ausgang des Asylverfahrens nicht ab, sondern wandern nach wenigen Tagen weiter. Davon abhalten tut sie natürlich niemand."

So gilt zum Beispiel in Österreich seit Anfang August ein Erlass des Innenministeriums, der eigentlich die Behörden im Osten des Landes entlasten soll. Erstaufnahmegespräche mit Geflüchteten können demnach nicht nur an der ungarischen Grenze, sondern auch in anderen Bundesländern geführt werden. Dafür bekommen einige der Flüchtenden ein Zugticket.

Nebeneffekt: Wer ohnehin nicht in Österreich bleiben will, kann dann weiter in andere Länder. Und wer auf das Erstaufnahmegespräch und damit auch auf ein Asylverfahren in Österreich verzichtet, hat bessere Chancen, woanders anerkannt zu werden. Denn das "Dublin-Verfahren" sieht vor, dass Asylanträge nur von dem ersten EU-Staat geprüft werden sollen, wo der Geflüchtete registriert worden ist.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichteten die tagesthemen am 23. September 2022 um 21:45 Uhr.