Auf derm Marseiller Großmarkt wurden bislang Tausende Tonnen genießbares Obst und Gemüse weggeworfen.
Europamagazin

Zero Foodwaste in Marseille Ein Großmarkt ohne Lebensmittel-Müll

Stand: 06.03.2021 17:33 Uhr

Auf dem Marseiller Großmarkt werden jährlich Tausende Tonnen Obst und Gemüse entsorgt, obwohl sie noch essbar sind. Eine Küche macht daraus Suppe Marmelade und Säfte - und spendet die Produkte.

7.30 Uhr morgens auf dem Großmarkt von Marseille: Großhändler Samy Gasmis hat seine Geschäfte bereits gemacht, seine Kundinnen und Kunden sind schon wieder weg. Jetzt ist Aufräumen bei seinem Stand "Primavera Frutta" angesagt. Gasmis steht vor einer Palette mit Orangenkisten, die nicht verkauft wurden. Die Orangen sehen nicht mehr so glänzend aus. Ein Killerkriterium: Sobald irgendetwas nicht mehr perfekt aussieht, kann Gasmis es nicht mehr verkaufen. "Dabei schmecken sie jetzt am besten", sagt er.

Bisher sind solche Lebensmittel vernichtet worden, obwohl sie eigentlich noch in Ordnung sind. Etwa hundert Tonnen Obst und Gemüse musste Gasmis so jedes Jahr wegwerfen. "Um Tomaten, Zucchini, Sellerie oder Orangen zu produzieren braucht es monatelange Arbeit, manchmal sogar Jahre. Dass so ein Produkt im Müll landet, tut mir wirklich weh", betont er.

Seit Januar ist für Gasmis mit dem Wegwerfen Schluss. Er liefert Ware, die er nicht mehr verkaufen kann, an die neu gegründete "Association Fruits et Légumes Solidarité", eine gemeinnützige Obst- und Gemüseküche auf dem Gelände des Großmarkts. "Die Produkte bekommen ein neues Leben. Das ist sehr gut", sagt er. "Und man kann Menschen damit helfen."

Großhändler Samy Gasmis bedauert es sehr, wenn er Orangen wegwerfen muss, die noch genießbar sind

Großhändler Samy Gasmis bedauert es sehr, wenn er Orangen wegwerfen muss, die noch genießbar sind.

Verarbeitung zu Suppe, Marmelade, Saft

Auch finanziell lohnt sich die Spende: Den Großhändlern werden 60 Prozent des Gegenwerts der gespendeten Produkte bei der Steuer gutgeschrieben. Nach und nach liefern immer mehr Großhändler ihre Ware an die Initiative.

"Jeden Morgen entdecken wir von Neuem, was die Händler des Großmarkts uns liefern. Wir müssen uns daran anpassen. Das ist immer spannend", sagt Dro Kilndjian, Leiter der Obst- und Gemüseküche. Er prüft die ankommende Ware. Je nach Lieferung wird entschieden, was zubereitet wird.

In der professionell ausgestatteten Küche, die mit Sterilisations- und Vakuumiergeräten eher an ein Labor erinnert, kocht in einem riesigen Topf Karottensuppe. "Wegen des Zustandes, in dem die Produkte zu uns kommen, haben wir oft nicht genug Zeit, um sie rechtzeitig weiter zu verteilen. Also mussten wir einen Weg finden, die Lebenszeit der Produkte zu verlängern, indem wir sie weiterverarbeiten", sagt Kilndjian. Suppe bietet sich als Verarbeitung oft an. Frisches Gemüse wird auch regelmäßig tiefgefroren. Obst wird häufig zu Kompott, Marmelade oder Saft verarbeitet.

In der Küche des Marseiller Großmarkts bereitet ein Mitarbeiter Karottensuppe zu

In der Küche des Marseiller Großmarkts bereitet ein Mitarbeiter Karottensuppe zu.

Die Küche darf jetzt auch Essen ausliefern

Für den Marseiller Großmarkt ist die Küche eine Möglichkeit, gegen Lebensmittelverschwendung vorzugehen. "Auf dem Großmarkt wurden jährlich bis zu 2400 Tonnen Obst und Gemüse entsorgt. Wir hoffen, dass wir auf diesem Wege 1000 Tonnen jährlich einsparen und das Bedürftigen zukommen lassen können", sagt Direktor Marc Dufour.

Im Dezember nahm die Küche ihre Arbeit auf, vergangene Woche haben Lebensmittel-Labore die Produkte überprüft und für gut befunden. Jetzt darf die Initiative ihre Produkte auch ausliefern.

Das Ziel: 75 Prozent der Produkte sollen gespendet, der Rest verkauft werden. So soll sich die Initiative perspektivisch selbst tragen. Die knapp 800.000 Euro Anfangsinivestionen kam größtenteils vom Département. "Der Start ist unseren Erwartungen entsprechend gelaufen. In 24 Monaten soll sich das Projekt selbst tragen", sagt Dufour.

Ein Gabelstapler mit Lebensmitteln fährt über den Marseiller Großmarkt

Ein Gabelstapler mit Lebensmitteln fährt über den Marseiller Großmarkt.

Lebensmittel werden an Tafeln ausgegeben

Die Idee stammt von Gérard Gros von der gemeinnützigen Lebensmittelbank "Banque Alimentaire". "Die Armut ist hier in der Gegend ist sehr groß. Wir versorgen 130.000 Menschen mit Essen. Und die brauchen natürlich auch Obst und Gemüse", sagt er. Da viele Jobs durch die Corona-Pandemie weggefallen seien, sei der Bedarf auch noch einmal deutlich gestiegen.

Gros hat nun den Überschuss auf dem Großmarkt mit den Bedürfnissen der ärmeren Menschen in Marseille verknüpft: Die "Banque Alimentaire" verteilt die zubereiteten Lebensmittel aus der Obst- und Gemüseküche an unterschiedliche Hilfsorganisationen.

Souad Boukhechba verteilt Lebensmittel an 200 Menschen im Marseiller Norden

Souad Boukhechba verteilt Lebensmittel an 200 Menschen im Marseiller Norden.

Die erste Ladung Suppe und Tiefkühlgemüse geht an die Initiative "Femmes du Plan d´Aou". Im armen Marseiller Norden versorgt sie 200 Personen mit Gratis-Lebensmitteln. "Ich freue mich total. Die Suppe ist nahrhaft und es sind Vitamine und Mineralien darin", sagt Souad Boukhechba, die Vizepräsidentin von "Femmes du Plan d´Aou". Viele die zu ihr kommen, um sich Spenden abzuholen, könnten sich gesunde Lebensmittel sonst nicht leisten.

Auch Yasmina Belgour ist gekommen. "Es ist nicht leicht für mich. Ich möchte, dass die Kinder sich ausgewogen ernähren, Gemüse oder Fisch. Aber mein Bruder ist vor kurzem gestorben. Er hat fünf kleine Kinder hinterlassen, um die ich mich kümmere", erzählt sie. Dass sie den Kindern jetzt gesunde Lebensmittel aus gerettetem Gemüse servieren kann, findet sie doppelt gut. 

Diese und weitere Reportagen zeigt das "Europamagazin" am Sonntag, 12:45 Uhr im Ersten.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete das Europamagazin am 07. März 2021 um 12:45 Uhr.