Die Aufschrift einer Hauswand in Simferopol.

Zehn Jahre nach Russlands Annexion "Die Krim ist zu einem Gefängnis geworden"

Stand: 18.03.2024 14:52 Uhr

Zehn Jahre ist die Annexion der Krim her - seitdem hat Russland die Halbinsel hochgerüstet und verschleppt offenbar Zivilisten aus anderen besetzten Gebieten dorthin. Der Verbleib der Gefangenen ist lange unklar, die Haftumstände erschreckend.

Von Rebecca Barth, ARD Kiew

Faride Abdurachmanowa hat sich extra Zeit genommen für das Gespräch. Die 27-Jährige drückt der Tochter ihr Handy in die Hand und schaltet eine Kinderserie ein. Dann beginnt sie zu erzählen von dem Tag vor zwei Jahren, der ihr Leben für immer verändern sollte. "Sie haben meinen Ehemann mitgenommen. Sie waren zu siebt, kamen ins Haus, haben die Kinder zu mir ins Zimmer geschickt. Und dann habe ich nur noch Schreie und Schläge gehört. Sie haben ihn sehr schlimm gefoltert."

Die junge Familie lebt damals, zu Beginn des russischen Angriffskrieges, noch in einem kleinen Dorf im Süden der Ukraine - nur wenige Kilometer von der annektierten Halbinsel Krim entfernt, direkt am Meer. Die russischen Besatzer warfen Abdurachmanowas Ehemann vor, Mitglied in einem krimtatarischen Bataillon gewesen zu sein. Die muslimische Minderheit, der die Familie angehört, steht besonders im Fokus der russischen Behörden.

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"Wir hatten keine Gelegenheit, etwas zu fragen. Der ganze Raum war voller Blut", sagt sie. "Sie haben seine Hände mit Klebeband gefesselt, ihm einen Sack über den Kopf gezogen, alles mit Klebeband zugeschnürt und ihn ins Auto geworfen. Nach drei oder vier Tagen bekamen wir einen Anruf vom FSB, dass er dort ist."

Auf der Krim verliert sich die Spur

Dort - das bedeutet: in Simferopol, auf der Krim. Vor zehn Jahren hat Russland die ukrainische Halbinsel annektiert. Heute ist sie von äußerst großer symbolischer, politischer und militärischer Bedeutung. Aber nicht nur das, erklärt Olha Skrypnyk von der Menschenrechtsgruppe Krim: "Was wichtig ist, zu erwähnen - und eine völlig neue Situation für die Krim - ist, dass die Krim zu einem Gefängnis für Menschen aus den neu besetzten Regionen Cherson und Saporischschja geworden ist. Sie werden entführt und auf die Krim gebracht. Früher gab es in Simferopol nur die Haftanstalt Nummer eins, in der unter anderem politische Gefangene inhaftiert wurden."

Abdurachmanowas Ehemann ist einer von schätzungsweise hunderten ukrainischen Zivilisten, die aus dem Süden des Landes gewaltsam auf die Krim gebracht wurden. Wie viele Menschen in den seit 2022 besetzten Gebieten insgesamt verschleppt und inhaftiert wurden, sei kaum zu ermitteln, sagt Olha Skrypnyk.

Die Menschen würden im russischen Gefängnissystem verschwinden, von der Außenwelt abgeschnitten: "Wenn sich Verwandte, Anwälte, das Rote Kreuz oder die ukrainischen Behörden einschalten, bestätigen die russischen Behörden die Inhaftiertierung der gesuchten Person nicht. Sie haben keinen Anwalt", sagt sie. "Sie wurden in Cherson, Oleschky oder Melitopol entführt, aber sind offiziell auch nicht in Simferopol. Formal existieren sie gar nicht."

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Schraffiert: von Russland besetzte Gebiete

Keine Regelung für Zivilisten

Allein im ersten Jahr des russischen Angriffskrieges seien in Simferopol auf der Krim zwei neue Haftanstalten registriert worden, sagt Skrypnyk. Mindestens 25 neue Gefängnisse sollen es innerhalb weniger Jahre in den besetzten Gebieten der Ukraine werden, hat die Nachrichtenagentur AP recherchiert. Für festgehaltene Zivilisten bestehe aktuell kaum Hoffnung auf Freilassung, erklärt Menschenrechtlerin Skrypnyk.

"Über zivile Gefangene ist in der Genfer Konvention nichts festgehalten. Man ist nicht davon ausgegangen, dass ein Land im Krieg einfach abertausende Zivilisten festhalten wird."

Bei Kriegsgefangenen gebe es ein etabliertes Vorgehen, Soldaten könnten über Gefangenenaustausche in die Heimat zurückkehren. "Für Zivilisten gibt es so etwas nicht. Wir suchen jetzt einen Mechanismus, wenigstens irgendeine Möglichkeit, diese Menschen nach Hause zu bringen", sagt Skrypnyk. Aber oft sei es dann zu spät: Die gefangenen und verschleppten Menschen stürben an den Folgen von Folter, ausbleibender medizinischer Versorgung oder an den schrecklichen Haftbedingungen - "und wir wissen nicht einmal, wo sie genau sind."

Faride Abdurachmanowas Ehemann ist mittlerweile in ein Gefängnis in Russland verlegt worden. So viel ist der Familie bekannt. Für die Kinder versucht sie, stark zu bleiben, sagt sie und hofft jeden Tag, dass ihr Ehemann freigelassen wird. Auch wenn das an ein Wunder grenzen würde.

Rebecca Barth, ARD Kiew, tagesschau, 18.03.2024 11:23 Uhr