
Neue Erkenntnisse Anne Frank wohl von jüdischem Notar verraten
Anne Franks Versteck vor den Nationalsozialisten wurde offenbar von einem jüdischen Notar verraten. Zu diesem Ergebnis kommt ein internationales Ermittlerteam, das den Fall fast sechs Jahre lang untersucht hat.
Vince Pankoke stand 27 Jahre lang im Dienst des FBI. Als Pensionär hat er nun ein internationales Ermittlerteam unterstützt, das den Fall der Anne Frank neu untersucht hat.
Für den ehemaligen Geheimagenten war dieser Fall kein "Cold Case", sondern ein "Frozen Case" - eine Geschichte, die zu viel zu lange auf Eis lag. Doch nach fast sechs Jahren intensiver Recherche ist das 23-köpfige Expertenteam davon überzeugt, den Mann gefunden zu haben, der die Familie Frank im August 1944 verraten hat.
Vor allem ein anonymer Brief, den Annes Vater Otto Mitte der 1950er-Jahre erhalten hatte, habe auf die Spur eines jüdischen Notars geführt, sagt Pieter van Twisk, der niederländische Leiter der Untersuchungen.
"Dies ist die Kopie des Briefes, der in Otto Franks Briefkasten geworfen wurde. Darin behauptet ein Unbekannter, dass das Versteck der Familie Frank verraten wurde, und zwar durch den Notar Arnold van den Bergh", berichtet van Twisk.
Hinweise für Täterschaft van den Berghs
Die Existenz des Briefes ist seit Jahrzehnten bekannt. Doch viele Historiker hegten Zweifel an der Täterschaft des jüdischen Juristen. Denn angeblich soll van den Bergh die Niederlande schon 1943 verlassen haben.
Dies haben die Experten jedoch anhand von Unterlagen aus dem Stadtarchiv widerlegt. Demnach hat der angesehene niederländische Notar noch im Februar 1944 beim Einwohnermeldeamt eine neue Adresse innerhalb Amsterdams angegeben.
Nicht nur dieser Umstand spreche laut van Twisk für van den Bergh als Verräter. "Du schaust, wer hat das Wissen, die Gelegenheit und das Motiv. Und er erfüllt alle drei Voraussetzungen", so van Twisk. "Er war ein führender Kopf im Jüdischen Rat und hatte Zugang zu Dokumenten. Er hatte außerdem die Gelegenheit und befand sich selbst in einer schwierigen Situation."
Wollte offenbar seine Familie schützen
Als Mitglied des Jüdischen Rates lebte van den Bergh zunächst relativ ungefährdet. Doch 1944 nahm der Druck auch auf ihn zu. Um sich und seine Familie zu schützen, habe er den deutschen Besatzern vermutlich eine ganze Reihe von Adressen untergetauchter Familien zugesteckt, sagt Ex-FBI-Agent Pankoke.
"Das Motiv im Fall von Arnold van den Bergh war, sich, seine Frau und seine drei Töchter vor der Deportation in ein KZ zu schützen. Entweder hast du als Jude damals kooperiert oder du wurdest in den Osten geschickt", so Pankoke.
Der ehemalige FBI-Agent räumt ein, dass die neue Theorie nicht zu 100 Prozent sicher sei, aber zu 85 Prozent, glaubt er. Die Ermittler stützen sich bei ihren Untersuchungsergebnissen auf Interviews, historische Dokumente, Adresslisten und Tagebücher.
66 Gigabyte Daten
Im Computer, so van Twisk, seien dabei 66 Gigabyte an Daten zusammengestellt worden. "Wir haben beispielsweise alle Nachbarn, die damals in der Nähe des Hinterhauses gewohnt haben, analysiert. Wer wohnte wo, und was für Menschen waren das? Hatten sie Kontakt zu niederländischen Nationalsozialisten oder waren es bekannte Verräter oder Informanten?"
Die Untersuchungen hätten nicht nur den Verdacht gegen van den Bergh erhärtet, sagt van Twisk. Zugleich konnten durch die Recherche-Ergebnisse etwa zwei Dutzend andere Theorien ausgeschlossen werden.
Neuen Erkenntnisse bringen keine absolute Sicherheit
Absolute Sicherheit gebe es aber auch 77 Jahre nach Kriegsende nicht. Ronald Leopold von der Amsterdamer Anne-Frank-Stiftung hält es daher weiterhin für möglich, dass die Bewohner des Hinterhauses in der Prinsengracht 263 nicht verraten, sondern zufällig von den Nazis entdeckt wurden. "Ich glaube nicht, dass man auf der Grundlage dieser neuen Untersuchung, diese Theorie ausschließen kann", so Leopold.
Nein, eine "smoking gun" hätten sie tatsächlich nicht gefunden, gibt der frühere Geheimagent Pankoke zu, aber eine noch warme Waffe mit leeren Patronenhülsen daneben.