Blick auf zerstörte Häuser in Mariupol (Archiv 24.12.2022)

Genfer Konventionen Wie Russland in der Ukraine gegen Kriegsrecht verstößt

Stand: 12.08.2024 08:07 Uhr

Vor 75 Jahren wurden die Genfer Konventionen unterzeichnet - auch von Russland. Doch immer wieder werden dem Land in der Ukraine Kriegsverbrechen vorgeworfen. Die Täter zur Rechenschaft zu ziehen, ist schwierig.

Von Rebecca Barth, ARD Kiew

Wenn Iryna Koska an ihre Heimat denkt, schweifen ihre Gedanken ab. Ununterbrochen kann Koska erzählen - über den Beginn des russischen Angriffskriegs, über die Belagerung und systematische Zerstörung ihrer Heimatstadt Mariupol, über die Bomben, die Kälte und den Hunger.

Ihr Wunsch ist, dass die Täter zur Rechenschaft gezogen werden. "Wir hatten so eine Angst", sagt Koska. "Es war die Hölle auf Erden. Ich hatte den Eindruck, dass sie uns das mit Leichtigkeit angetan haben."

Genfer Konventionen
Die Genfer Konventionen sind zwischenstaatliche Abkommen und bilden einen der Eckpfeiler des humanitären Völkerrechts. Sie regeln im Fall eines Krieges den Schutz der Zivilbevölkerung oder von Personen, die nicht an den Kampfhandlungen teilnehmen.

Das erste Genfer Abkommen entstand 1864. Dieser Grundstein wurde 1949 bei einer diplomatischen Konferenz mit knapp 20 Staaten ergänzt. Inzwischen haben 196 Länder die Genfer Konventionen ratifiziert. 

Die vier Genfer Konventionen bestimmen die Behandlung von Verwundeten und Kranken an Land und auf See, den würdigen Umgang mit Kriegsgefangenen und den Schutz von Zivilpersonen in Kriegszeiten. Später wurden Zusatzprotokolle hinzugefügt.

Wochenlang war die Stadt umkämpft. Die Ukraine vermutet Zehntausende zivile Opfer. Die juristische Stiftung "Global Rights Compliance" hat das Vorgehen der russischen Truppen in Mariupol untersucht.

Das russische Militär habe von Beginn an systematisch zivile Infrastruktur in Mariupol zerstört, schreiben die Experten in einem im Juni veröffentlichten Bericht. Mit dem Ziel, die Überlebensfähigkeit der Zivilbevölkerung systematisch zu untergraben, heißt es.

Ein Junge steht neben einem Autowrack vor einem Wohnhaus, das während des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine in der südlichen Hafenstadt Mariupol beschädigt wurde

Ein Junge steht vor einem Wohnhaus, das während des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine in der südlichen Hafenstadt Mariupol beschädigt wurde (Archivbild).

Vorwurf Kriegsverbrechen

Auch Iryna Koska erinnert sich. Am 26. Februar, zwei Tage nach Invasionsbeginn, seien die Verteilerstationen getroffen worden. Es habe weder Licht noch Wasser gegeben. Eine Woche später hätten sie das Gas verloren. "Das war eine Katastrophe", erzählt Koska. "Die Leute gingen umher und suchten nach Wasser. Das war am Anfang unser größtes Bedürfnis."

An Wasserausgabestellen seien die Bewohner Mariupols beschossen worden, berichtet Koska weiter. Gezielter Beschuss der Zivilbevölkerung aber ist laut Genfer Konventionen verboten. Und bei Weitem nicht das einzige Kriegsverbrechen, das ukrainische Behörden und Menschenrechtsorganisationen russischen Soldaten vorwerfen.

Bislang 22 Russen wegen Kriegsverbrechen verurteilt

22 russische Militärangehörige seien bisher wegen Kriegsverbrechen verurteilt worden, geben ukrainische Behörden an. Doch die Täter zur Verantwortung zu ziehen, ist schwierig.

Wenn die Ermittler Zugang zum Tatort haben, gebe es im Prinzip keine Hindernisse, erklärt die Juristin Anna Rassamachina. Doch das ändere sich, wenn die Straftaten auf besetztem Gebiet oder in Russland verübt würden. "Ich meine zum Beispiel ukrainische Zivilisten, die illegal in Gefängnissen in Russland festgehalten werden."

Das gilt auch für Mariupol. Die russischen Besatzungsbehörden lassen unabhängige Ermittler nicht in die Stadt. Eine richtige Aufklärung systematischer Verbrechen - fast unmöglich.

Unterdrückung durch Russland

Doch, dass die russische Armee mit System versucht, die ukrainische Zivilbevölkerung zu unterdrücken - davon sind die meisten Menschen in der Ukraine überzeugt. "Sie foltern mit ähnlichen Methoden - zu verschiedenen Zeiten, an verschiedenen Orten", sagt Rassamachina. Doch dann brächten sie die Menschen in dieselben Gefängnisse nach Brjansk oder Kursk.

Das alles habe System. "Aber unser Ermittlungssystem betrachtet leider die einzelnen Fälle - und das ist auch notwendig", erklärt Rassamachina. "Aber das Gesamtbild geht dabei verloren."

Zehntausende Strafverfahren eingeleitet

130.000 Strafverfahren seien bereits wegen mutmaßlicher Kriegsverbrechen eingeleitet worden, sagt Rassamachina. Und dennoch bleibt bei vielen Menschen ein Gefühl: Russische Truppen könnten nahezu ohne Konsequenzen zivile Infrastruktur zerbomben, Kriegsgefangene foltern oder Zivilisten verschleppen.

Daher wünscht sich die Ukraine ein internationales Tribunal - um die militärische und politische Führung Russlands zur Verantwortung zu ziehen.

Rebecca Barth, ARD Kiew, tagesschau, 11.08.2024 20:02 Uhr

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete Deutschlandfunk am 12. August 2024 um 05:05 Uhr.